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Archiv-Artikel

„Mehr Balance“

KRISENEXPERTE Die Türkei sollte weniger parteiisch auftreten und realistischer werden, sagt Hugh Pope

Hugh Pope

■ ist Repräsentant der International Crisis Group (ICG) in der Türkei. Die ICG ist eine nichtstaatliche Organisation zur Konfliktforschung.

taz: Herr Pope, die International Crisis Group hat kürzlich eine viel beachtete Studie über das Risiko eines Übergreifens des syrischen Bürgerkrieges auf die Türkei veröffentlicht. Wenige Tage später rissen im Grenzort Reyhanli zwei Bomben 51 Menschen in den Tod. Ist das die Bestätigung für die von Ihnen prognostizierte Gefahr?

Hugh Pope: Natürlich, die Türkei ist durch ihre 900 Kilometer lange Grenze zu Syrien potenziell gefährdet. Dazu kommt, dass sie sich durch ihre generöse Aufnahme von rund einer halben Million Flüchtlinge weitere Risiken ins Haus holte. Allerdings läuft die Türkei auch Gefahr, durch ihre massive Unterstützung der konservativen sunnitischen Opposition immer mehr als Teil des Konflikts gesehen zu werden.

Was sollte die türkische Regierung stattdessen tun?

Sie sollte zu einer ausbalancierteren Außenpolitik in der Region zurückkehren. Vor ein paar Jahren konnte die Türkei noch mit allen verfeindeten Gruppen und Regierungen in der Region reden. Jetzt gilt sie als Parteigängerin einer konservativen sunnitischen Allianz im Nahen Osten.

Gehen Sie davon aus, dass sich durch das Attentat in Reyhanli an der türkischen Syrienpolitik etwas ändert?

Wir beobachten bereits seit einigen Wochen, dass die Rhetorik von Ministerpräsident Tayyip Erdogan und Außenminister Ahmet Davutoglu zurückhaltender geworden ist. Sie halten sich mit unrealistischen Forderungen zurück und tun nicht mehr so, als sei der Abgang von Assad nur noch eine Frage weniger Tage.

In Reyhanli kam es nach dem Anschlag zu Protesten der einheimischen Bevölkerung gegen die Regierung und Angriffen auf syrische Flüchtlinge. Hat die Regierung ihre eigene Bevölkerung überfordert?

In der Tat ist die Situation vor allem in der Provinz Hatay, wo Reyhanli liegt, sehr angespannt. Das hat mit der besonderen Situation dort zu tun. Die Provinz gehörte bis 1938 noch zum französischen Protektorat Syrien und ist bis heute ein Mikrokosmos der syrischen Gesellschaft. In Hatay leben viele arabisch sprechende Aleviten, Christen und säkulare Türken. Die sympathisieren zumeist nicht mit den sunnitischen Flüchtlingen aus Syrien.

Soll die Türkei also die Grenze für Flüchtlinge dichtmachen?

Nein, es ist natürlich sehr begrüßenswert, dass die Türkei so vielen Flüchtlingen hilft. Sie muss aber auch ihre Flüchtlingspolitik auf eine realistischere Basis stellen. Sie ging bislang davon aus, dass die Flüchtlinge schnell wieder zurückkönnen. Danach sieht es aber nicht aus. Die Menschen werden Jahre bleiben, und es werden mehr. Das ist mit Zeltlagern an der Grenze nicht zu bewältigen. Die Flüchtlinge müssen im Land verteilt werden, sie brauchen eine Arbeitserlaubnis und Ausbildungsmöglichkeiten für Kinder. Um diese große Aufgabe zu bewältigen, braucht die Türkei viel mehr Unterstützung aus Europa. Das Land hat bislang rund 800 Millionen Euro für die Flüchtlinge aufgewendet, nicht einmal 100 Millionen davon kamen als Hilfe aus dem Ausland.

INTERVIEW: JÜRGEN GOTTSCHLICH