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Archiv-Artikel

Stadt und Nacht

BUCHVORSTELLUNG Sammelsurium ohne Erektionen: Vier AutorInnen lesen Storys aus „Berlin bei Nacht“

Die Autoren lassen ein wenig ihre Berlin-Biografien Revue passieren

Als ich am Alexanderplatz aussteige, ist es noch gefühlter Spätnachmittag, kurz vor acht. Das Haus Ungarn an der Karl-Liebknecht-Straße ist ein guter Ort, um die Nacht langsam einzuläuten. Holzvertäfelungen und DDR-Feiersaalatmosphäre. Ein ausrangierter Kühlschrank, auf dem „Made in Berlin“ steht. Und eine Bar.

Im Saal begeht man am Freitagabend die Buchpremiere von „Berlin bei Nacht“, einem Sammelband mit 24 Kurzgeschichten. Moderator und taz-Literaturredakteur Dirk Knipphals, selbst mit einem Beitrag vertreten, hat die Autorinnen Annika Reich und Jenni Zylka sowie die Autoren Bernd Cailloux und Imran Ayata zu Gast – in vier Kurzlesungen erzählen sie von ihren Berliner Nächten.

Bernd Cailloux, seit 1977 in Berlin lebender Schriftsteller, macht den Anfang – er lädt zur Taxifahrt in den Berliner Westen. In seiner Kurzgeschichte begegnet man jedwedem Menschentypus, der einem in Berlin nachts so über den Weg läuft: drei britischen Touristen, die auf dem Weg in den Puff sind, dem Elder Statesman im Frack, dem Pärchen, das am Schmuddeleck zusteigt und von Hochzeit spricht, besser wissenden Wilmersdorfer Witwen und so manch Party- und Saufwütigem. Taxifahrer Haas zitiert gegenüber dem Fahrgast Rudi Carrell den Schriftsteller Norman Mailer: „When I first landed in Berlin, I had an erection.“ Darauf Carrell: „Das kann nicht sein, ich saß ja neben ihm.“ Berlin bei Nacht: ein Sammelsurium, keine Erektionen.

Die bleiben auch in der Erzählung Annika Reichs aus. Zwar dreht sich ihre Geschichte ums Berghain. Allerdings geht die Protagonistin nicht ins Berghain hinein, sondern begutachtet nur die Schlange davor. Für sie, einer zugezogenen Oberösterreicherin, stellt sich der mythisch aufgeladene Ort am Ostbahnhof als leeres Versprechen dar. Sie wird zur „neokonservativen Romantikerin“, weil sie die Libertinage nicht reizvoll findet. Auch ihre Story ist neokonservativ und romantisch – das passt nicht zur Berliner Nacht. Denn Berlin bei Nacht, das scheint eher: Entgrenzung.

Bei dem Autor, DJ und Kanak Attak’ler Imran Ayata kreist die Geschichte dann um ein großes Popkonzert und um einen einsamen Streuner. Jenni Zylka berichtet im Anschluss von einem nächtlichen Kochwahn, bei dem man allerhand anbrennen lassen kann – wenn man während des Brutzelns einschläft. Baguettes werden so zu Briketts, die Kaffeemaschine schmort durch. Und die Sicherungen fliegen raus. Berlin bei Nacht, das ist auch: Hunger und Brand.

Die Gespräche zwischendurch und im Anschluss plätschern an diesem Abend eher so dahin, eine richtige Diskussion kommt nicht auf. Die Autoren lassen ein wenig ihre Berlin-Biografien Revue passieren und den Grund, warum sie einst herkamen. Zylka erzählt Anekdoten aus dem alten Westberlin, als die Szene so klein war, dass man sich nachts im Taxi traf.

Nach der Lesung gehe ich raus in die Berliner Nacht, die sich noch immer im Frühstadium befindet. Ich nehme die U8, später fahre ich mit dem Fahrrad die Sonnenallee stadtauswärts Richtung „Bei Ruth“ (Ex- Bei Roy). Auf dem Konzert in einer alten Fabriketage lärmen zwei Bands, bis es etwa zwei Uhr ist. Aus der Location heraus hat man einen schönen Blick auf Häuserblocks. Jetzt ist Nacht in Berlin. JENS UTHOFF

■ Gretter, Susanne (Hg.): „Berlin bei Nacht: Neue Geschichten“. Mit David Wagner, Klaus Bittermann, Anna Katharina Hahn, Robert Stadlober u. a. Suhrkamp Verlag, 265 Seiten, 7,99 Euro