: Die Krise, die New York veränderte
1975 war die Stadt bankrott. Die Konservativen sahen die Chance, ihre Utopie zu verwirklichen
■ ist Historikerin und außerordentliche Professorin an der Universität von New York. Ihr Schwerpunkt ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts in den USA. Ihr erstes Buch, „Invisible Hands: The Making of the Conservative Movement from the New Deal to Reagan“, erschien 2009 im Verlag W. W. Norton. Sie schreibt unter anderem für The Nation, London Review of Books, Reviews in American History sowie International Labor and Working-Class History.
An einem Dienstag im Mai 1975 traf der Bürgermeister von New York City, Abraham Beame, im Weißen Haus ein. Mit dabei war der Gouverneur des Bundesstaats, Hugh Carey; beide brachten schlechte Nachrichten zu dem Gespräch mit US-Präsident Gerald Ford mit. New York ging das Geld aus, ohne Hilfen konnte die Stadt ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen.
Carey warnte, dass ernsthafte Kürzungen den sozialen Frieden gefährdeten. Ford antwortete, er brauche 24 Stunden, um darüber nachzudenken. Am nächsten Tag teilte er ihnen mit, dass das Weiße Haus nichts tun könne. Für den Rest des Jahres schusterte New York einen Plan nach dem anderen zusammen, um nicht Insolvenz anmelden zu müssen. Sozialausgaben und städtische Dienstleistungen wurden zusammengestrichen.
Die angebliche Wiederauferstehung New Yorks heute wird oft mit den 70er Jahren verglichen, die als dunkle Zeit gelten, die die Stadt durchstehen musste, um in der rosigen Gegenwart anzukommen. Richtig ist daran immerhin, dass die Finanzkrise und die folgenden Haushaltskürzungen das Gesicht der Stadt bis heute verändert haben. Wie die meisten Haushaltskrisen war auch die New Yorker gleichzeitig vorhergesehen worden und dennoch ein immenser Schock. Schon seit Anfang der Siebziger war New York immer mehr in Schwierigkeiten geraten, weil die Abwanderung von Unternehmen in den Süden der USA und die Flucht der weißen Mittelklasse nach Suburbia zu sinkenden Steuereinnahmen führten.
Die Ausgaben der Stadt waren während der Jahre der Great Society, der Sozialreformen unter Präsident Johnson, gestiegen. Zunächst halfen Zuschüsse aus Washington bei den wachsenden Ausgaben. Aber als die Steuereinnahmen einbrachen, versuchte die Stadt sie mit der Aufnahme von Schulden zu ersetzen. Stillschweigende Annahme war, dass es sich um zeitlich begrenzte Maßnahme handele.
Aber 1975, als die Rezession die gesamten USA erfasste, wurden die Banken, die die New Yorker Schulden vermarkteten, immer skeptischer bezüglich der Zukunftsaussichten der Stadt. Einige Firmenchefs erklärten, wenn der Bürgermeister nicht die Ausgaben zurückfahre und einen ausgeglichenen Haushalt einführe, sollten Manager die Führung New Yorks übernehmen. In extremen Zeiten, schreib damals Jac Friedgut, Vizepräsident der First National City Bank, „können viele Dinge getan werden, die eigentlich nicht möglich sind“.
Im Frühling erklärten die Banken der Stadt, dass der Anleihemarkt geschlossen sei. Nachdem New York keine weiteren Kredite mehr bekam, konnte die Stadt ihre Schulden nicht mehr bezahlen – und auch nicht mehr die Gehälter ihrer Beschäftigten. Erst Monate später erzielte die Stadt eine Einigung mit Banken und Gewerkschaften: Die Zahl von Polizeibeamten und Lehrern sank um 6.000, die der Feuerwehrleute um 2.500, erstmals wurden an der City University Studiengebühren eingeführt.
Heute sind uns die Rituale der Finanzkrise vertraut: die Anschuldigungen gegen den öffentlichen Dienst ebenso wie die Schmähungen gegen die Armen, deren Inanspruchnahme von staatlichen Leistungen als exzessiver Luxus beschimpft wird. Seit 2008 hat eine amerikanische Stadt nach der anderen mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Die Finanzen von Detroit werden seit Kurzem durch einen externen Manager kontrolliert. Dass Detroit am Ende ist, weiß jeder. Aber New York war das Epizentrum des Kapitalismus.
Die Haushaltskrise der Stadt galt daher recht bald als Metapher für das generelle Versagen des Linksliberalismus in den USA. Nach dem Krieg hatte New York eine sozialdemokratische Politik verfolgt, die die Überzeugung beinhaltete, die städtische Verwaltung zu nutzen, um Benachteiligten zu helfen. 1975 besaß die Stadt neunzehn Krankenhäuser, einen ausgedehnten öffentlichen Nahverkehr und öffentlichen Wohnungsbau, Kindergärten und gut ausgestattete Schulen. Das städtische Universitätssystem – das einzige seiner Art in den USA – stellte eine kostenlose Hochschulbildung zur Verfügung. Ein System der Mietenkontrolle ermöglichte es den Mittelschichten, in der Stadt zu wohnen.
Für die Konservativen bewies die Haushaltskrise die Unfähigkeit der Linksliberalen, Empfindungen mit finanziellen Notwendigkeiten in Einklang zu bringen. Präsident Fords Berater waren seit Langem New York gegenüber feindlich eingestellt. Als die Stadtverwaltung im Frühjahr 1975 um Hilfe bat, antwortete Donald Rumsfeld (Fords Stabschef), dem zuzustimmen wäre eine „Katastrophe“. Nur einen Monat nach Fords Rede, nach einer Welle der Kritik aus den Eliten, revidierte Washington seine Position und stimmte Finanzhilfen zu – unter der Bedingung, dass sich die Stadt einem ausgeglichenen Haushalt annähere. Dennoch zeigt seine Bereitschaft, New York pleitegehen zu lassen, dass der Rechten ideologische Reinheit über alles ging. Eine Lektion über die Gefahren des Wohlfahrtsstaats zu erteilen war wichtiger als internationales Prestige.
Die Krise brachte eine Neuausrichtung der Konzeption von Politik mit sich. Demokraten wie Bürgermeister Beame hatten Politik als ein Zusammenspiel von Verhandlungen und Kompromissen verstanden. Mächtige Leute trafen Arrangements mit anderen mächtigen Leuten. Seine Generation wurde nun von einer jüngeren ersetzt, die es geradezu als Auszeichnung verstand, den öffentlichen Sektor verkleinert zu haben. Der Weg für einen neuen Linksliberalismus war frei, der seine Werte dem privaten Sektor entliehen hatte.
Auch wenn sich die Gewerkschaftschefs schließlich den Kürzungen fügten, gab es zunächst große Demonstrationen; im Herbst 1975 drohten die Gewerkschaften für kurze Zeit sogar mit einem Generalstreik. Einige Demonstranten besetzten Feuerwachen, um sie offen zu halten, oder warfen Müll auf die Straße, um gegen Entlassungen von Müllmännern zu protestieren. Aber als die Feuerwehrstationen schlossen, die Größe der Schulklassen wuchs und tausende Bewerber der City University nicht zugelassen wurden, weil niemand ihre Anträge bearbeitete, half die Krise, einen neuen Konservatismus zu verbreiten. Die Stadtvertreter erhielten viele Briefe, deren Verfasser Zorn über die „welfare people“ äußerten, die die Stadt an diesen kritischen Punkt gebracht hätten.
Heute scheint die New Yorker Haushaltskrise wenig mehr als die Erinnerung an eine weit entfernte Zeit zu sein. Aber die kleiner gewordenen Ansprüche, die wir an den öffentlichen Sektor haben, und die Schwierigkeiten, ein normales Mittelschichtsleben in New York zu finanzieren, sind ein Vermächtnis der Haushaltskrise. Heute scheinen Stadtverwaltungen vor allem dazu da zu sein, privates Kapital anzuziehen und bei Laune zu halten.
New York ist heute die Stadt mit der größten Ungleichheit in der Welt. In den Künstler- und Intellektuellenkreisen gibt es eine Nostalgie für das New York der Siebziger – als Künstler in Soho wohnten und HipHop erfunden wurde. Es ist einfach, solche Gefühle als bloße Sentimentalitäten einer privilegierten Generation abzutun. Verglichen mit der heutigen, mit Geld vollgestopften und ökonomisch gespaltenen Stadt, waren die trostlosen Siebziger eine Zeit der Möglichkeiten.
New York sah damals eine neue Ära der Austerität heraufdämmern. Der Rückzug des Staats bedeutete auch das Schrumpfen der sozialen Fantasie. Die neuen Sprüche über die Grenzen politischer Träume standen in starkem Widerspruch zum neuen populistischen Utopismus des freien Markts. Und noch immer leben wir in einer Gesellschaft, die von den deutlichen Grenzen in der politischen Sphäre und der wahnhaften Grenzenlosigkeit der Märkte definiert wird.