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Archiv-Artikel

„Wir sind zu verwöhnt“

In Norwegen zählen Aktivitäten in der Natur zum Kulturgut. Ein Gespräch mit dem Sportwissenschaftler Dieter Lagerstrøm

taz: Herr Lagerstrøm, wie wird ein Sportwissenschaftler der Sporthochschule Köln zum Hotelier in Norwegen?

Dieter Lagerstrøm: Es war schon immer mein Traum, einen eigenen Hotelbetrieb zu haben, der alle Sparten an Aktivitäten abdeckt. Der also der Oma ebenso ein Freizeitangebot bietet wie dem Hochleistungssportler, vor allem in Kombination mit der Natur. Diesen Traum habe ich mir jetzt erfüllt

Welches Konzept hat sich daraus für Ihr Hotel ergeben?

In den Bereichen Fitness, Gesundheit und Wellness wird normalerweise sehr programmatisch gearbeitet und nur wenig auf die persönlichen Bedürfnisse der Menschen eingegangen. Ich hingegen habe in meinen Arbeitsgruppen immer versucht, den Daumenabdruck des Menschen zu deuten, also festzustellen: Was ist das für ein Mensch? Was möchte er? Was braucht er?

Das heißt?

Wir wollen mit Hilfe der Natur und den Aktivitäten in der Natur – zum Beispiel Mountainbiken, Ski- oder Kajakfahren – den Menschen ein Stück Normalität zurückgeben.

Wie kam es zu dieser Idee?

Meine These ist: Zwei Drittel der Menschen wollen gar keinen Sport treiben. Dabei ist Bewegung für den Menschen lebensnotwendig. Deshalb sind wir gerade in den Großstädten dazu übergegangen, Bewegung zu verkaufen, die mit Sport gar nicht so viel zu tun hat.

Zum Beispiel?

Treppensteigen statt Aufzug zu fahren. Also die Füße zu dem zu gebrauchen, zu dem sie da sind.

Dann ist Ihr Hotel ein Stück Norwegen für Wohlstandsschnösel?

Schnösel ist ein interessantes Wort – wenn Sie es in Beziehung setzen zu verwöhnt sein. Im Grunde genommen ist es genau das: Wir haben uns selbst so verwöhnt, dass wir das Eigentliche verlassen haben. Gerade im Bewegungsbereich sind viele Menschen ziemlich verkümmert. Genau hier sehe ich die Schwächen der ganzen Bewegungs- und Sportstrategien: Sie sind nicht auf den einzelnen Menschen zugeschnitten, sondern auf Institutionen und Organisationen. Hinzu kommt, dass den meisten Aktivitäten immer noch der Wettkampfgedanke zugrunde liegt.

Das ist bei Ihnen nicht der Fall?

Nein. Ein Prinzip des „Friluftsliv“ ist, dass kein Wettkampf stattfindet.

Bitte definieren Sie den Begriff Friluftsliv etwas genauer.

Friluftsliv heißt nichts anderes als Freiluftleben, es ist einfach das Leben in der Natur. Für den Norweger ist das auch der Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen. Hauptsache, er findet mit und in der Natur statt.

Wäre Friluftsliv auch in Deutschland denkbar?

Prinzipiell schon. Andererseits ist es meine Überzeugung, dass man am besten das Original erlebt und erfühlt, um den Inhalt richtig zu verstehen. In Norwegen ist Friluftsliv ein Teil der Bildung. Und es ist sogar in der norwegischen Verfassung verankert, insofern hier das Jedermannsrecht besteht: Jeder darf die Natur benutzen, sofern er sie nicht zerstört. Fischen zum Beispiel ist ebenso überall erlaubt wie Zelten.

Auch Studenten der Sporthochschule Köln kommen zu Ihnen, um Friluftsliv zu erfahren. Was lehren Sie denen?

Nur ein Beispiel: Die Studenten haben heute keine Beziehung mehr zur Nahrungskette. Das heißt, von 50 Studenten haben wir vielleicht drei, die bereit sind, einen Fisch zu töten. Mit der Zeit, und das geht ziemlich schnell, sehen sie dann, dass die Nahrungskette etwas ganz Natürliches ist – und dass das Töten in diesem Fall dazugehört. Dadurch bekommen sie ein Stück Natürlichkeit implementiert. Ich nenne das immer Staubwischen

Staubwischen?

Ja. Für mich ist alles genetisch gelagert. Wir sind von der Genetik her genau dieselben Menschen wie vor tausend Jahren, da hat sich überhaupt nichts geändert. Das, was wir prinzipiell können, muss nur gelebt werden.

So wie Fische töten.

Ja. Es gibt aber auch andere Beispiele. So können in Hamburg zehnjährige Kinder nicht mehr rückwärts gehen. Sie haben Teilelemente des aufrechten Gangs verkümmern lassen – weil sie ihre zwei Beine nicht mehr genügend gebrauchen.

Was hat das mit Friluftsliv zu tun?

In der Natur zu laufen, also über Stock und Stein, gibt eine vollkommen andere Koordination. Man lernt seine Beine ganz anders zu gebrauchen. Auch das ist Friluftsliv. INTERVIEW: FRANK KETTERER