Ein Biest, wer nicht liest

LESEMARATHON Mit „24 Stunden Buch“ machte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels mächtig Reklame für das Lesen in Berlin

Ob rentabel oder nicht, spektakulär ist die Aktion allemal

VON INGA BARTHELS

Zwölf Uhr mittags, Joachimstaler Platz. Der Schauspieler und Sprecher Frank Arnold sitzt in der Verkehrskanzel auf dem Dach des U-Bahnhofs Kurfürstendamm. Unter ihm der Bahnhofskiosk mit Berlin-Nippes, hinter ihm die grauen Hochhäuser von Allianz & Co. Arnold liest Texte über die Macht der Bücher und des Lesens, von Seneca, Borges, Goethe. Eine kleine Gruppe von Menschen hat sich zusammengefunden und hört ihm, dem Verkehrslärm trotzend, zu. Dann und wann bleiben Touristen stehen. Auch die hören so den Satz von Günter Kunert: „Wer nicht gerne Bücher liest, ist für mich ein blödes Biest!“

Die Aktion ist der Auftakt zu „24 Stunden Buch“, einem neuen Veranstaltungsformat des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Berlin-Brandenburg. 24 Stunden lang von Freitag, 12 Uhr, bis Samstag, 12 Uhr, Lesungen, für Kinder und Erwachsene. Dazu sogenannte Buchmarkt-Backstage-Veranstaltungen. Ein giftgrünes Festivalbändchen gewährt Zutritt zu allen Events.

Um 13 Uhr stehen etwa 30 Interessierte vor dem Wareneingang bei Dussmann. Einen Blick hinter die Kulissen des Geschäfts soll es hier geben, die Führung gehört zu den Backstage-Veranstaltungen von „24 Stunden Buch“. Auch Verlage, Agenturen und andere Institutionen öffnen für solche Einblicke in den Literaturbetrieb ihre Türen.

In den Räumen der Warenannahme, ehemals eine Autowerkstatt, erinnert nichts an Glas und Glanz der Verkaufsräume in der Friedrichstraße. Die Abteilungsleiterin für Service und Logistik, Iris Neininger, erklärt den Weg der Bücher von der Bestellung bis in die Regale der Buchhandlung. Insgesamt 2 Millionen Exemplare würden allein von den Verlagen im Jahr geliefert, der Großhandel käme noch dazu. Das Gewicht entspräche 167 Elefanten, erläutert Neininger.

Dann geht es rüber zur Ablieferstelle im Hauptgebäude, wo ein Mitarbeiter erklärt, wie er hier jeden Tag die Bücher aus den Kisten in die Regale schafft. Nach einer Fahrt im Warenaufzug in den Verkaufsräumen angekommen, übernimmt die Pressesprecherin das Wort. Es wird noch ein wenig Werbung gemacht, am Schluss gibt’s Geschenke: Dussmann-Tasche und Schlüsselband.

In den eleganten Räumen der Literaturagentur Graf & Graf in Charlottenburg erklärt Inhaberin Karin Graf etwas später ihre Arbeit. Sie erzählt von den Anfängen ihrer vor 18 Jahren gegründeten Agentur. Inzwischen ist sie renommiert, Graf vertritt Autoren wie Judith Schalansky und Péter Nádas. In der Besuchergruppe sind auch einige Autoren, die sich mehr oder weniger unauffällig erkundigen, wie sie ihre Texte an Mann oder Frau bringen können. Bei Graf & Graf sind sie da wohl an der falschen Adresse, die Agentur übernimmt neue Autoren nur auf Empfehlung, unverlangt eingesendete Manuskripte werden gar nicht gelesen.

Am Abend geht es los mit den Lesungen für Erwachsene. In der Insel, einem kleinen Buchladen in Prenzlauer Berg, drängen sich die Menschen, um Selma Wels und Inci Bürhaniye zuzuhören. Die beiden erzählen von der Gründung ihres Verlages Binooki, in dem sie türkische Literatur auf Deutsch verlegen. Dieser Tage feiern sie zwei Jahre Bestehen, als Geburtstagsgeschenk für sich selbst haben sie den Lyrikband „Istanbul Bootleg“ von Gerrit Wustmann verlegt. Als Überraschungsgast liest dann der junge Dichter auch noch vor, mit ausdrucksstarker Stimme, draußen wird es langsam dunkel. Johanna Hahn, Geschäftsführerin des Börsenvereins Berlin-Brandenburg, unterbricht die Lesung nach einer Stunde, es muss weitergehen. Alle die zum Shuttle wollen, sollen ihr bitte folgen.

Als Service gibt es durch die Nacht einen Bustransfer zwischen den Events, Marke großer gelber Touri-Bus. Mit dem geht es zur Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, dort liest Thomas Meinecke im Roten Salon aus „Lookalikes“. Auf dem Weg sagt Johanna Hahn, dass es noch unklar sei, ob „24 Stunden Buch“ so wiederholt wird. Das Bändchen nutzten nicht viele, die meisten kauften einzeln Tickets für die Lesungen. Ob rentabel oder nicht, spektakulär ist die Aktion allemal.

Vor Ort ist es heiß und stickig. Meinecke liest von Salvador de Bahia, Hubert Fichte, Candomblé-Ritualen. Worte wie „clubbiger Vibe“ und „popistische Verweishölle“ fallen, man muss es mögen. Nach der Lesung legt Meinecke noch House-Musik auf, bis zwei Uhr. Ein paar Leute tanzen, die meisten sitzen in roten Polstermöbeln und trinken Wein.

Die ganze Nacht geht es weiter. Lesungen in Buchläden, Lesungen in Lokalen. Als Jörg Sundermeier um halb sechs Uhr morgens aus Büchern seines Verbrecher-Verlages vorträgt, ist es schon wieder hell. Eine kleine Gruppe Hartgesottener sitzt noch in der Neuköllner Schankwirtschaft Laidak, unter ihnen Johanna Hahn und Detlef Bluhm, die Geschäftsführer des Börsenvereins Berlin. Sundermeier liest Texte von Egon Neuhaus und Irmtraud Morgner. Ab und zu kommt ein Betrunkener rein und bestellt noch ein Bier. Um acht Uhr findet die nächste Lesung statt.