: „Mir gefällt das Wort ‚Fremdbetreuung‘ nicht“
FAMILIE Anregungen zu Hause bleiben der wichtigste Einflussfaktor für die Entwicklung der Kinder, sagt Hans-Günther Roßbach
■ Jahrgang 1951, studierte Pädagogik, Psychologie und Soziologie. Seit 2002 hat er den Lehrstuhl für Elementar- und Familienpädagogik an der Uni Bamberg inne. Er forscht unter anderem zur Qualitätsfeststellung in Institutionen der Früherziehung.
taz: Herr Roßbach, Sie untersuchen den Einfluss der Familie auf kindliche Bildungsprozesse. Was ist Ihr wichtigstes Ergebnis?
Hans-Günther Roßbach: Durchgängig zeigt sich, dass die Qualität der Anregungen in der Familie der wichtigste Einflussfaktor für die Entwicklung der Kinder ist. Wichtig ist auch, dass die Qualität dieser Anregungen nur teilweise von Hintergrundmerkmalen wie Sozialschicht oder Bildungsstand der Eltern abhängt.
Auf welcher empirischen Grundlage haben Sie geforscht?
Wir haben an der Universität Bamberg in einer Forschergruppe der Deutschen Forschungsgemeinschaft rund 550 dreijährige Kinder über mehrere Jahre begleitet. Neben Feststellungen des Entwicklungsstandes der Kinder zu verschiedenen Zeitpunkten wurden die Eltern zu Hause befragt und in ihren Interaktionen mit den Kindern beobachtet.
Haben Sie etwas gegen Krippen?
Nein! Krippen und Kindertageseinrichtungen können für Kinder bedeutsame Lebensorte sein. Aber es kommt auf ihre Qualität an. Eine hohe Qualität ist längerfristig mit Fortschritten in der kognitiven wie auch in der sozial-emotionalen Entwicklung verbunden. Man sollte berücksichtigen, dass ganz frühe – das heißt im ersten Lebensjahr – und zeitlich umfangreiche Krippenbetreuungen in mehreren Untersuchungen sich ungünstig auf das Sozialverhalten ausgewirkt haben und Problemverhalten verstärkten. Allerdings ist davon nur eine kleine Gruppe von Kindern betroffen, und die Verhaltensprobleme liegen auch nicht in einem klinischen Bereich.
Hat ein früher Beginn öffentlicher Betreuung nicht gerade bei sozial benachteiligten Kindern einen positiven Effekt?
Eine qualitativ gute Kindertageseinrichtung hat positive Effekte für alle Kinder. Ob sich die gute Kindertageseinrichtung besonders positiv bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien auswirkt und damit die Schere zwischen benachteiligten und nicht benachteiligten Kindern reduziert wird, lässt sich aufgrund des Forschungsstandes nicht definitiv beantworten. Dabei spielt auch das derzeitige Qualitätsniveau in Kindertageseinrichtungen eine Rolle, das sich in verschiedenen Untersuchungen im Durchschnitt nur als mittelmäßig erweist.
Wie kann man Kindern aus diesen Familien anders helfen?
Ein erfolgversprechender Ansatz ist die Verbindung von Familienbildung und Betreuung in Kindertageseinrichtungen. Familienzentren zum Beispiel bieten zum einen Anregungen für einen förderlichen Umgang mit den Kindern zu Hause, zum anderen aber vernachlässigen sie nicht ihr Kerngeschäft einer qualitativ guten Erziehung, Bildung und Betreuung.
Liefern Sie mit Ihren Ergebnissen den Befürwortern des umstrittenen Betreuungsgeldes wissenschaftlich untermauerte Argumente?
Nein, unsere Forschungsergebnisse zeigen auf, dass Kinder von guter familialer Betreuung wie auch von einer guten Betreuung in Tageseinrichtungen profitieren. Besonders förderlich ist es, wenn die Qualität in beiden Bereichen gleichzeitig hoch ist.
Wie kann man die Qualität in der öffentlichen Betreuung verbessern?
Es gibt verschiedene Ansatzpunkte, von denen die Verbesserung von Rahmenbedingungen wie Gruppengrößen oder Erzieherin-Kind-Schlüssel nur einer ist. Wichtiger ist eine Verbesserung der unmittelbaren Qualität der pädagogischen Prozesse vor Ort. Hier können Fortbildungen in den Einrichtungen verbunden mit Supervisionen wichtige Impulse bieten.
Was müsste sich in der Ausbildung von Erzieher/innen ändern?
Der Aktionsrat Bildung hat 2012 ein Gutachten veröffentlicht, das das gesamte Ausbildungssystem für Kindertageseinrichtungen zum Gegenstand hatte. Besonders wichtig ist eine akademische Ausbildung des Leitungspersonals. „Leitung“ ist hierbei aber nicht nur im Sinne von Management zu verstehen; wichtiger ist Leitung im Sinne von „pädagogischer Führung“, von Vorleben eines guten Rollenmodells und der Fähigkeit, das gesamte Team pädagogisch weiterzuentwickeln.
In der öffentlichen Debatte taucht immer wieder das Wort „Fremdbetreuung“ auf. Halten Sie das für einen geeigneten Begriff? Sind Erzieherinnen, die mit den Kindern teilweise mehr Zeit verbringen als die Eltern, „Fremde“?
Mir gefällt das Wort „Fremdbetreuung“ nicht. Gewiss aber werden Eltern von Kindern, die einen großen Zeitraum des Tages in einer Kindertageseinrichtung verbringen, nicht zu „Fremden“ für ihre Kinder. In der Regel verbringen Eltern in einer Woche immer noch mehr Zeit mit Kindern, als diese in einer Einrichtung sind. Zudem gibt es in Untersuchungen Hinweise darauf, dass auch bei umfangreicher Ganztagesbetreuung das Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern nicht beeinträchtigt wird und die Eltern die wichtigsten Bezugspersonen für ihre Kinder bleiben.
INTERVIEW: THOMAS GESTERKAMP