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Archiv-Artikel

Quälen im Namen des Vaterlandes

Das Schicksal eines russischen Rekruten, dem nach Misshandlung durch Vorgesetzte Beine und Genitalien amputiert werden mussten, erregt die Öffentlichkeit. Der Fall sollte vertuscht werden. Nach Protesten ermittelt jetzt der Militärstaatsanwalt

AUS MOSKAUKLAUS-HELGE DONATH

„Hier liegt ein kleiner Soldat ohne Beine“, meldete sich eine anonyme Stimme beim Komitee der Soldatenmütter in Tscheljabinsk. Das Komitee geht seit Jahren landesweit dem Missbrauch von Rekruten in der Armee nach. „Wir weinen alle, wenn wir den Jungen sehen und wollen nicht, dass seine Geschichte vertuscht wird“, soll die Anruferin laut Nowije Iswestije gesagt haben.

Der kleine Rekrut war Andrej Sytschow, der in der Neujahrsnacht von älteren Soldaten brutal zugerichtet worden war. Sie fesselten den 19-Jährigen und schlugen stundenlang auf ihn ein. Sytschow klagte am nächsten Tag über starke Schmerzen in den Beinen. Militärärzte in der Offiziersschule der Panzertruppen in Tscheljabinsk verweigerten Hilfe. Erst vier Tage später wurde er in eine Klinik gebracht.

Die Ärzte diagnostizierten Wundbrand und Knochenbrüche. Zunächst amputierten sie ein Bein, dann das zweite, später einen Finger und die Genitalien. Die „dedy“, die Großväter, sind in der russischen Armee Soldaten, die schon länger gedient haben. Ob ihres brutalen Regiments sind sie verrufen. Aber auch „dedy“ haben Drangsalierung und Schikanierung gerade erst am eigenen Leib erfahren. Die Herrschaft der Älteren, die „dedowtschina“, ist das Disziplinierungsprinzip der russischen Armee, die keinen professionellen Unteroffiziersstand kennt. Das Offizierskorps überträgt die Verantwortung für Disziplin Wehrdienstleistenden, die selber erst ein Jahr gedient haben.

Die Verrohung in der Armee ist lange ein offenes Geheimnis. So gehörten die Praktiken der „dedowtschina“ zu den ersten Missständen, die in den 80er-Jahren in der Öffentlichkeit angeprangert wurden. Dem russischen Verteidigungsministerium gelang es indes, die Einführung von Berufsunteroffizieren aus Angst vor dem Verlust von Privilegien zu sabotieren. Sytschows Schicksal ist kein Einzelfall. 2005 kamen laut Statistik des Verteidigungsministeriums 1.064 Rekruten ums Leben, 16 davon starben nach Misshandlungen durch Vorgesetzte. Nach Angaben des Komitees der Soldatenmütter liegt die wahre Zahl um ein Vielfaches höher. Die Mütter vermuten, dass 80 Prozent der Verbrechen verheimlicht werden.

Auch Sytschows Fall wollte man vertuschen. Eine übliche Praxis ist die Überstellung in ein ziviles Krankenhaus, damit fallen die Opfer aus der Armeestatistik heraus. Diesmal gelang es nicht, weil die Ärzte Zivilcourage bewiesen. Aber auch sie hätte man versucht, zum Schweigen zu verpflichten, berichtet die russische Presse. Sytschows Mutter erhielt anonyme Anrufe, die finanzielle Kompensation anboten, wenn sie die Sache auf sich beruhen ließe, schrieb die Komsomolskaja Prawda.

Inzwischen nahm sich der Militärstaatsanwalt der Sache notgedrungen an. Denn in der sonst eher gleichgültigen russischen Öffentlichkeit erregte der Vorfall Entsetzen. In Moskau verlangten am Wochenende 250 Demonstranten den Rücktritt von Verteidigungsminister Sergej Iwanow, in Tscheljabinsk waren es einige Dutzend. Tage nachdem die Misshandlung publik wurde, wollte der Vizepremier nichts davon gewusst haben. Er sei in den Bergen gewesen, sagte er russischen Journalisten.

Von sieben inhaftierten Schlägern befinden sich vier tatverdächtige Offiziere wieder auf freiem Fuß. Der Chef der Militärakademie im Ural, Generalmajor Wiktor Sidorow, wurde aus dem Militärdienst entlassen. Das wahre Motiv für Sanktionen erklärt der Militärexperte Alexander Golz jedoch nicht mit der Unfähigkeit der Vorgesetzten, den Sadismus zu unterbinden. Sie würden bestraft, weil sie den Fall nicht vertuschen konnten.