piwik no script img

Archiv-Artikel

Alles inklusiv im Marderhaus

WOHNPROJEKT Wo die Eider ein Flüsschen ist und Hasen hoppeln: Im Kieler Stadtteil Russee planen Privatleute Schleswig-Holsteins größtes Wohnprojekt. Sie hoffen, dass das Gelände eine renditeorientierte Bebauung unattraktiv macht

„An uns verdient die Stadt ganz stark im immateriellen Sinn, weil wir hier tatsächlich etwas ganz Neues schaffen wollen“

Maria Gemind, Wohnprojekt-Sprecherin

AUS KIEL ESTHER GEISSLINGER

Das Marderhaus ist Knud Kellers liebste Ecke auf dem Gelände: „Der Eingang ist so toll“, schwärmt der Student über das rote Backsteinhaus mit dem breiten Vorbau. Seinen Namen trägt das Marderhaus, weil die kleinen Jäger seine bisher letzten Bewohner waren. Vielleicht schlafen immer noch welche unter dem Ziegeldach. Das Marderhaus ist nicht baufällig, aber es müsste einiges getan werden, bis jemand – Knud Keller zum Beispiel – dort einziehen kann.

Dabei ist das Marderhaus längst nicht die schwierigste Baustelle auf dem vier Hektar großen Gelände des „Hofes Hammer“ im Kieler Stadtteil Russee. Die Stadt will aus dem Areal ein neues Wohnviertel machen. Eine Initiative von Privatleuten hat sich gebildet, um hier ein Wohnprojekt umzusetzen. Es wäre mit rund 120 Einheiten das größte in Schleswig-Holstein.

Wo künftig Häuser stehen sollen, hockt ein Hase im Gras und reckt die Ohren. Im Stadtteil Russee präsentiert sich die Landeshauptstadt ländlich: Die Straßennamen enden auf „Chaussee“ oder „Landstraße“. Grüne Gärten hinter Lattenzäunen prägen das Bild. Der Hof Hammer, eine weiße, ein wenig heruntergekommene Villa aus der Gründerzeit, liegt am Ufer der Eider, die hier noch ein Flüsschen ist. Ein von Bäumen beschatteter Wanderweg führt direkt am Grundstück vorbei. Dennoch sei es mit Rad oder Bus nicht weit ins Stadtzentrum, versichern die Mitglieder der Initiative.

Sie sind eine bunte Truppe: Frauen mit Vorliebe für gewebte Stoffe, Männer mit runden Brillen. Das weckt Vorurteile. „Empfangen werden wir meist mit einem süffisanten Lächeln“, sagt Annette Tews, die seit fast drei Jahrzehnten in Russee lebt, und mitgestalten will.

Viele Gespräche haben die Mitglieder der Gruppe bereits geführt, mit den politischen Fraktionen des Kieler Rathauses, aber auch mit Banken und Ämtern. In den meisten Fällen verwandelten sich die spöttischen Blicke in Staunen, „und am Ende des Gesprächs, wenn wir die Zahlen präsentiert haben, gibt es einen festen Händedruck“, stellt Tews fest. Cornelius Fasshauer, im Hauptberuf Bauingenieur, fügt hinzu, dass es ihm selbst ähnlich ging: „Ich bin aus Neugier hineingeraten und war dann schnell entflammt, als ich sah, wie konkret das Ziel schon ist.“

Das, was die Initiative sich vorgenommen hat, ist ein Millionenprojekt. Um den Hof Hammer, das „Herzhaus“, herum sollen Wohnhäuser, eine Kita, Werkstätten und Arztpraxen entstehen. Im „Herzhaus“ sind ein Café sowie Verwaltungsräume der Wohnprojekt-GbR geplant.

Sabine Mehrgardt, die Architektin der Gruppe, sieht zu dem Gebäude auf. Die Stadt hat eine Besichtigung für Investoren angeboten, bei der Gelegenheit wird Mehrgardt sich erstmals genauer anschauen können, ob Schimmel unter den Fenstern nistet oder feuchte Stellen im Keller lauern. Zurzeit sitzen in den Räumen noch die Beschäftigten einiger städtischer Ämter. Sie werden aber in Bälde ausziehen und damit den Weg freimachen für die neuen Besitzer.

Bei älteren Gebäuden, das ist der Gruppe klar, kann eine Renovierung teurer werden als ein Neubau – aber freie Hand zum Abriss gibt es nicht, schließlich stehen mehrere Häuser unter Denkmalschutz, darunter der Hof Hammer und eine halb verfallene Kate am Eingang des Geländes. Auch der Baumbestand zwischen den Häusern ist geschützt. Nur etwa die Hälfte der 40.000 Quadratmeter darf neu bebaut werden. Aus diesem Grund hofft die Initiative auch darauf, den Zuschlag zu erhalten: Für eine kommerzielle Nutzung wäre der Aufwand wahrscheinlich zu hoch.

Hinzu kommt, dass die Stadt sich zu einem sozialen und behindertengerechten Viertel bekennt. Seit Mitte vergangenen Jahres laufen die Planungen, bei denen die Verwaltung von Anfang an auf Bürgerbeteiligung setzte. In Workshops und Zukunftswerkstätten diskutierten die Verwaltung, heutige Bewohner des Stadtteils und Investoren darüber, wie das neue Viertel an der Eider aussehen soll.

Zum jüngsten Treffen schickte die Stadt neun Personen, angefangen von Bürgermeister Peter Todeskino über Vertreter mehrerer Ämter bis zum Behindertenbeauftragten. Todeskino erläuterte, was der Stadt besonders am Herzen liege: Inklusives Wohnen, das alle Schichten und Generationen sowie Behinderte einbezieht. Letztere sind bereits da: Die Stiftung Drachensee unterhält auf dem Gelände mehrere Wohngruppen für Menschen mit Behinderungen.

Je mehr Zielgruppen ein Konzept enthalte, desto größer sei die Chance, dass es den Zuschlag erhalte, hieß es bei der Vorbesprechung. Dieses Ziel erfülle die Initiative, sagt Maria Gemind, die Sprecherin der Gruppe. Ein Drittel der Wohnungen soll den Regeln für sozialen Wohnungsbau entsprechen, damit Arbeitslosengeld-Empfänger, Alleinerziehende und finanzschwache Alte einziehen können. Dabei sollen alle Wohnungen den gleichen Standard haben.

Wer mehr Platz für Kinder braucht oder im Alter eine kleinere Wohnung zu ebener Erde möchte, solle innerhalb der Anlage umziehen dürfen. Ambulante Pflege – ehrenamtlich durch Nachbarn und professionell – soll möglich sein. Einige Mitglieder der Gruppe setzen darauf, durch das Projekt Arbeit zu finden, darunter Petra Schröder, die als Alleinerziehende zurzeit von Hartz IV lebt und stolz sagt: „Die Vielfalt an Lebensentwürfen bringen wir mit.“

Fraglich ist, ob die Gruppe es schafft, in den nächsten Wochen alle formalen Kriterien zu erfüllen. Der Zeitplan ist eng: Das Auswahlverfahren läuft bereits, und sollte es den Zuschlag geben, „muss im Sommer Geld auf den Tisch“, sagt Cornelius Fasshauer. Im Prinzip steht die Finanzierung über Fördermittel von Land und Stadt, dazu Eigenkapital und Kredite von Investitionsbanken, darunter der anthroposophischen GLS. Aber es müssen sich genug Personen finden, die der GbR beitreten und Geld geben.

„An uns verdient die Stadt ganz stark im immateriellen Sinn, weil wir hier tatsächlich etwas ganz Neues schaffen wollen“, wirbt Maria Gemind. Sie wünscht sich, dass „die Politik genauso mutig ist wie wir selbst“.