„Auch in Preußen gab es Untugenden“

HISTORIE Die Deutschen klammern sich an die Vergangenheit, weil sie keine Utopien mehr haben, glaubt der Historiker Wolfgang Wippermann

ist außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität in Berlin. 2010 erschien sein Buch „Denken statt denkmalen: Gegen den Denkmalwahn der Deutschen“, 2011 „Preußen. Kleine Geschichte eines großen Mythos“.

taz: Herr Wippermann, braucht Berlin dieses Schloss wirklich?

Wolfgang Wippermann: Nein, natürlich nicht. Aber nachdem man nun den Palast der Republik abgerissen hat, dieses ebenfalls nicht sehr schöne Gebäude, da kann man natürlich darüber streiten, ob diese leere Fläche irgendwie gefüllt werden muss. Man könnte allerdings auch den grünen Rasen lassen. Das wäre auch ganz schön.

Würde die Wiese nicht sehr gut passen zu Berlin, einer Stadt, deren Charme sich daraus speist, dass sie lange Zeit eben kein Machtzentrum war?

Ja, das habe ich auch gedacht, als sie nach dem Abriss des Palastes den scheußlichen Schutt weggeräumt hatten. Diese schöne, weite Fläche erinnerte mich ein bisschen an Washington, an diese Mall. Die Wiese wäre eine leere Mitte gewesen, die die Berliner gefüllt hätten. Sie hätten dort einfach Fußball gespielt und gegrillt.

Selbst Befürworter und Förderer des Stadtschlosses wollen heute kaum mehr über die historizistische Fassade sprechen, sondern nur noch über die moderne Nutzung, das Humboldtforum. Ist Preußen nun wieder out?

Ich habe den Eindruck, dass die Diskussion über Preußen und das Preußentum abgeebbt ist.

Erwarten Sie, dass im Laufe der Bauarbeiten wieder über Preußen gesprochen wird?

Da bin ich guter Hoffnung. Zumal ja niemand mit den Entwürfen dieses italienischen Architekten glücklich ist, mit diesem merkwürdigen Kompromiss zwischen Alt und Neu.

Wie stehen Sie zur Diskussion um das Einheitsdenkmal, das nun direkt am Schloss gebaut werden soll?

Ja, diese wunderschöne Schaukel, wo alle schön wippen und dabei das Schloss ansehen können. Ich halte generell nichts vom deutschen Denkmalwahn. Ich würde auch die Bestrebungen des Wiederaufbaus unter diesem Begriff subsumieren. Die Deutschen wollen sich ein Denkmal setzen. Sie krallen sich an eine schönere, eine bessere Vergangenheit.

Hat diese Vergangenheitsfixierung auch mit dem Mangel an Utopien zu tun?

Als Historiker muss ich mich natürlich für die Vergangenheit interessieren, aber ich fürchte, da ist etwas dran. Wir wissen nicht, wie es weiter gehen soll. Oberste Maxime ist das Durchwurschteln. Keiner wagt mehr, darauf hinzuweisen, dass es hinterm Horizont weiter geht. Niemand denkt mehr darüber nach, wie man eine bessere, gerechtere Welt errichten könnte. Das ist nicht mehr gewünscht. Und deshalb klammert man sich an den alten Steinen fest …

oder auch an den preußischen Tugenden?

Eben nicht mehr. Denn diese haben sich abgenutzt. Erstens wird man von unseren Herrschenden mit derart vielen Untugenden konfrontiert, dass es schnell ein Eigentor werden kann, wenn man sich als Politiker auf preußische Tugenden beruft. Und zweitens ist an diesen Tugenden historisch gesehen gar nichts dran. Auch in Preußen gab es Korruption und andere Untugenden. Die angeblich preußischen Tugenden wie Aufrichtigkeit, Bescheidenheit und Disziplin sind im Grunde nichts spezifisch Preußisches. Es handelt sich vielmehr um christlich-protestantische Werte, die damals auch außerhalb Preußens galten.

Wie beurteilen Sie die Pläne, die preußische Fassade des Schlosses mit dem Humboldtforum zu füllen, also mit einer Auseinandersetzung mit den Kulturen der Welt und der kolonialen Vergangenheit Deutschlands?

Na ja, das reale, das historische Preußen hatte noch keinen nationalistischen Charakter, das muss man den Preußen schon lassen.

Und doch war der Einzige, der das Schloss wirklich liebte, der letzte Kaiser, der ja bekanntlich nach „Weltgeltung“ und einem „Platz an der Sonne“ strebte.

Wilhelm II. war nur ein nachgemachter Preuße, ein Repräsentant des Preußentums. Aber Sie haben natürlich recht: Das Schloss ist im Grunde ein Remake eines Remakes, das gar nicht mehr so richtig in diese Welt hinein passt. Als man es füllen musste, da war man zunächst ratlos. Man wusste nicht, wozu man es eigentlich braucht. Da kam Humboldt gerade recht. Humboldt passt immer.Interview Susanne Messmer