Kunst des Aufbruchs

CROSS-BORDER Das ZKM Karlsruhe stellt zeitgenössische Künstlerinnen aus dem arabischen Mittelmeerraum vor – und zeigt damit, wie früh sich dort schon der zivile Unmut regte

Schnörkellos zeigen sich hier die Getriebenheit und Unbehaustheit der vorgestellten Biografien

VON URSULA WÖLL

Aus einer Haustür windet sich eine Menschenschlange, die auf allen Vieren eine Kreuzung überquert und ein Verkehrschaos verursacht. Die ägyptische Künstlerin Amal Kenawy hat ihre Performance gut vorbereitet, das zeigen die weißen Handschuhe, die alle zum Schutz ihrer Hände tragen. „Silence of Sheep“ nannte sie die Aktion, die die Ägypter daran erinnern sollte, dass sie sich wie Schafe vor ihrem Hirten beugen. Damals, 2010, war das noch Mubarak. Schon da herrschte Aufbruchstimmung in der Kairoer Kunstszene. Die Arabellion fiel nicht vom Himmel.

Natürlich provozierte die ‚Schafherde‘ den gewünschten Effekt, nämlich lebhafte Diskussionen unter den Kairoer Passanten. Auf dem Dokumentationsvideo sieht man, wie die 1974 geborene und 2012 an Leukämie verstorbene Amal Kenawy ihre Performance voller Verve gegenüber den aufgebrachten Männern verteidigt, die auf sie einreden. Der Aktion folgte die Verhaftung. Denn mit ‚Silence of Sheep‘ übte sie, eine Frau, öffentlich Kritik am Zustand der Gesellschaft. Damit überschritt sie ihre Befugnisse und die ihr gesellschaftlich gesetzten Grenzen. Amal Kenawy ist eine von 18 Künstlerinnen aus dem arabischen Mittelmeerraum, die das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) Karlsruhe in der Ausstellung „Cross-Border“ vorstellt.

Sie alle überschreiten Grenzen: geografische, politische, soziale, kulturelle oder individuelle. Alle sind sie jung, die 1952 geborene und seit Langem international bekannte Künstlerin Mona Hatoum ist die weitaus Älteste unter ihnen. Alle bringen sie sich mit ihrer Kunst in den gesellschaftlichen Prozess ein und suchen seine Dynamik zu befördern. Ihre Ausdrucksformen sind westlich geprägt, schließlich haben viele in Berlin, New York oder Paris gelebt, doch die Themen entnehmen sie ihrem sozialen Umfeld.

Susan Hefuna will das Selbstbewusstsein ihrer MitbürgerInnen stärken. Dazu hält sie ihnen keinen Spiegel vor wie Amal Kenawy, sondern strebt gleich eine positive therapeutische Wirkung an. Also bat sie unzählige weibliche und männliche Passanten jeden Alters, das Wort „Ana“ in die Kamera zu sprechen, was diese zögernd oder selbstbewusst tun, wobei sie einen auf dem Videomitschnitt frontal anblicken. ‚Ana‘ ist das arabische Wort für ‚Ich‘. Auf dem Weg durch die Ausstellung begleitet einem danach der Singsang „Ana, ana...“ wie ein Mantra.

Ähnlich konstruktiv geht die tunesische Künstlerin Faten Rouissi vor. Sie mobilisierte die Nachbarn ihres Quartiers und weitere Freunde über das Internet und forderte sie auf, die während der Rebellion entstandenen Autowracks zu bemalen. In ihrem Video, in dem sie die Aktion dokumentiert, sieht man jetzt die Grüppchen junger Leute, die mit Farbtöpfen losziehen, um in bunten Bildern und fantasievollen Slogans ihrem neuen, freien Lebensgefühl Ausdruck zu geben.

Andere Künstlerinnen attackieren die Grenzen im persönlichen Bereich und wagen sich an das Thema Sexualität. Die Algerierin Zoulikha Bouabdellah etwa gruppiert das arabische Schriftzeichen für Liebe, einmal in Schwarz und einmal in Rot, in vielen Variationen. Durch die diversen Konstellationen der beiden Zeichen entstehen, ganz im Rahmen der abstrakten arabischen Bildtradition, neue Symbole für zwischenmenschliche Kommunikation, bis hin zu zärtlicher Umarmung und körperlicher Vereinigung.

Ganz konkret fassbar ist die Installation mit neun Büstenhaltern der Jordanierin Diala Khasawnih, die eine Art Gästebuch begleitet. Viele Besucherinnen folgen der Einladung der Künstlerin, darin die Geschichte des ersten eigenen BH zu erzählen. Aus Damaskus steuert Diana El Jeiroudi einen 53-minütigen Film bei, eine Art Dokufiktion, in der sie die Bemühungen einer wohlsituierten Hausfrau schildert, gegen verwandtschaftliche Widerstände und gegen die Rollenzuschreibung durch die Werbung eine außerhäusliche Arbeit zu finden. Das war 2008, also noch vor Krieg und Zerstörung in Syrien.

Die marokkanische Künstlerin Bouchra Khalili co-kuratierte 2009 das Filmfestival ‚Arab Shorts‘ in Berlin. Ihre Videoarbeiten bewegen sich ebenfalls an der Schnittstelle von Dokumentar-, Experimental- und Kunstfilm, mit dem thematischen Schwerpunkt der Armutsmigration. In Karlsruhe sind drei Arbeiten aus ihrer Reihe „Mapping Journey“ vertreten. Auf der bildfüllenden Landkarte zeichnet eine Hand mit dem Stift die aberwitzigen Wege des jeweiligen Emigranten auf. Aus dem Off berichtet die zugehörige Stimme in knappen Sätzen über die Qualen der Überfahrt, die Odyssee durch ganz Europa auf der Suche nach Arbeit und schließlich die zwangsweise Ausweisung. Was in den Medien anonym erscheint, wird hier reales Schicksal einer Person, die jedoch auch im Film ihr Gesicht nicht zeigen darf. Minimalistisch verdichtet die Künstlerin das lebensgefährliche Überwinden von staatlichen Grenzen in den Siebdrucken „The Constellations“. Ein weißer Strich auf blauem Grund verbindet die Stationen der Hoffnung, die immer nur von kurzer Dauer sind. Schnörkellos zeigt sich hier die Getriebenheit und Unbehaustheit der vorgestellten Biografien. Der Aufbruch zu neuen Ufern ist nicht freiwillig, er verbreitet keine euphorische Stimmung, wie sie die Arbeiten über die bewussten Grenzüberschreitungen für eine freiere Welt vermitteln.

■ Bis 8. September, ZKM Karlsruhe