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Archiv-Artikel

Das Universum des Dr. Vernier

Bilder, Bibliotheken, Türen, Träume – der polnische Künstler Robert Kusmirowski inszeniert eine Zeitreise im Hamburger Kunstverein. Seine Ausstellung um das Buch „The Ornaments of Anatomy“ eines fiktiven und unheimlichen Mediziners illustriert das Klischee wahnsinniger Wissenschaft

von Hajo Schiff

Manchmal tun sich bisher nie bemerkte Türen auf. Und hinter ihnen lauert das Grauen. So beginnen Romane, Filme und Alpträume – oder Ausstellungen, wenn der polnische Künstler Robert Kusmirowski am Werk ist.

Im Zentrum seiner stark literarischen Ausstellung im Kunstverein in Hamburg steht ein auch den Projekttitel lieferndes Buch. Es ist der gewichtige Foliant The Ornaments of Anatomy von Dr. Vernier. Um die Welt des alten Gelehrten den Heutigen näher zu bringen, hat der 1973 in Lodz geborene Künstler eine Reihe von Kontexten um dieses Werk herum inszeniert. So steht das Schlüsselwerk aufgesockelt unter Glas in der Mitte einer Bibliothek: Tische, Stühle, Regale, Tausende von Büchern, an der Wand gerahmte alte Buchillustrationen und würdige Porträts. Das ist als Denkraum um ein Buch schon von erstaunlichem Aufwand, aber bei weitem noch nicht alles.

Wie bei einem Filmset die Kamera können die Besucher durch die Wand der muffig-modernen Bibliothek gehen und kommen so in das historische, noch viel seltsamere Privatreich des Dr. Vernier. Hier manifestiert sich in Tausenden von nützlichen und sentimentalen Objekten ein ganzes verstaubtes Universum: Skelette und Mumien, Röntgenbilder und Mikroskope, Gipsfiguren und der moderne Apparat „GW61 Wobbelzusatz“ aber auch Ahnen- und Heiligenbilder, Photos, Zeichnungen und Karten bevölkern Privatbibliothek, Studierecken und Sezierkammer samt Türen zu den Verbrennungsöfen. In teils schönen, teils schrecklichen Dingen bietet sich das gruselige Klischee wahnsinniger Wissenschaft dar. Wäre nicht alles so real, es könnte eine Illustration des so namensverwandten Jules Verne sein.

Aber was heißt hier real? Dieser märchenhafte Filmset enthält zwar manches Gefundene, ist aber in vielem vom Künstler nachgebaut. Denn Kusmirowski alias Dr. Vernier ist nicht nur ein versponnener Geschichtenerfinder, sondern auch ein gewiefter Modellbauer, der aus Gips und Pappkarton etwa ganze historische Tresorschränke nachbaut.

Und er ist ein begnadeter Zeichner mit Talent zum Fälscher. Hat er früher Briefmarken und Pässe täuschend echt nachgezeichnet, so foppt er hier mit gezeichneten Photografien oder einer surrealen Heimorgel mit einer nur einoktavigen Tastatur – und die ist bei näherem Hinsehen aus Büchern und die Manualknöpfe sind aus Champagnerkorken. Unnötig jetzt noch zu bemerken, dass auch alle Bilder in der vorderen, sozialistischen Bibliothek selbst gemacht sind und das zentral aufgesockelte, täuschend echt wirkende Buch eine Skulptur aus bemaltem Gips ist.

Das ganze Projekt hat eine Vorgeschichte: Schon vor einem Jahr zeigte der Kunstverein ein Vorspiel zur jetzigen Ausstellung: Die Fassade der Bibliothek des Dr. Vernier, mit verschlossener Tür und nur wenige Einblicke ermöglichend. Diese Begleitung eines „Work in Progress“ ist ein ausdrücklicher Versuch des Direktors Yilmaz Dziewior, eine Künstlerarbeit im Entstehen zu vermitteln und zu fördern. Inzwischen gilt Robert Kusmirowski übrigens international als einer der wichtigsten polnischen Künstler seiner Generation.

Wie eine Demontage aller Illusionen dagegen liest sich die parallele Ausstellung im Parterre des Kunstvereins. Dort zeigt das anonyme, in Berlin und New York agierende Künstlerkollektiv „Bernadette Corporation“ in Monitoren, Vitrinen und auf einer nutzlosen Filmleinwand seine Medien-Décollage „King Kong“. Von der Verlesung eines Vertrags über die Abtretung der Bildrechte bis zu Utensilien der Bildproduktion wie Fadenzählerlupen oder Passepartouts präsentiert die Gruppe das Material der Illusionsmaschinerie wie eine selbst zusammenzustellende Gebrauchsanleitung zur Medienanalyse.

„Robert Kusmirowski – Ornamente der Anatomie, Band 2“. Di–So 11–18, Do bis 21 Uhr, Kunstverein, Klosterwall 23; bis 26. März. Führungen: Jeden Donnerstag ab 18 Uhr. Katalog im Verlag Hatje Cantz, 152 Seiten, Leinen, 28 Euro