: Nach den Russen kommen Familien
TAZ-SERIE AUS DEN BEZIRKEN In Karlshorst gibt es alte Villen und viel Grün. Das gefiel schon den Sowjets – und lockt heute Eltern mit Kindern ins Viertel. Die Schulen im Kiez sind längst randvoll. Die Stadträtin muss sich etwas einfallen lassen und setzt auf Container
Gebiet: Der Bezirk Lichtenberg liegt von seiner Größe her im Mittelfeld aller Berliner Bezirke. Er umfasst eine Fläche von 5.212 Hektar. Der südlichste Ortsteil ist Karlshorst.
Bevölkerung: Rund 260.000 Einwohner leben in Lichtenberg, rund 23.000 davon in Karlshorst. Bis 2004 schrumpfte der Bezirk stark, inzwischen wächst er wieder deutlich. Etwa jeder sechste Lichtenberger hat einen Migrationshintergrund. Die größten Gruppen stellen Zuwanderer aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion und aus Vietnam.
Miete: Lichtenberg gehört zu den Bezirken mit der stärksten Mietsteigerung in den letzten Jahren. Inzwischen zahlt man in Karlshorst laut dem GSW-Wohnmarktreport bei Neuvermietungen im Schnitt 7 Euro pro Quadratmeter kalt. Außerdem finden sich hier im oberen Marktsegment bereits durchschnittliche Angebotsmieten von mehr als 10 Euro.
VON MARINA MAI
„Dahlem des Ostens“ nannte man Karlshorst vor dem Zweiten Weltkrieg. In dem Lichtenberger Ortsteil stehen Gründerzeitvillen mit Garten, die um das Jahr 1900 – damals noch vor den Toren Berlins – für Vorarbeiter und Ingenieure der nahen Industriegebiete errichtet wurden. Drumherum reihen sich Viergeschosser aus den 60er Jahren und denkmalgeschützte Häuschen. Der gewachsene Architekturmix, das Grün zwischen den Häusern, die kreativen Läden und Restaurants in vielen Erdgeschossen verleihen dem Ortsteil Charme.
„Dahlem des Ostens“, das hört die Karlshorsterin Katharina Ludwig nicht so gern. „Man sollte besser Dahlem als das Karlshorst des Westens bezeichnen“, sagt die Biologin selbstbewusst. „Schließlich hat Karlshorst Weltgeschichte geschrieben.“ Am 8. Mai 1945 wurde hier in einer Wehrmachtsschule die Kapitulationsurkunde Hitlerdeutschlands unterzeichnet und der Roten Armee übergeben. Damit endete der Zweite Weltkrieg in Europa.
In der Folgezeit erlag auch die Sowjetische Militäradministration dem Reiz dieses im Krieg weniger stark zerstörten Ortsteils, sie errichtete hier ihr Hauptquartier und beschlagnahmte Wohnhäuser für ihre Offiziere. In den alten Wehrmachtskasernen, die die Rote Armee bis 1993 nutzte, entstehen gerade Luxuswohnungen.
Überall in Karlshorst haben sich in den letzten Jahren die Kräne gedreht. Vor allem junge Familien fanden hier ein neues Zuhause. Die Folge: Die Karlshorster Schulen sind randvoll. „Im kommenden Schuljahr werden wir noch klarkommen“, sagt Lichtenbergs Schulstadträtin Kerstin Beurich (SPD). 2.000 neue Erstklässler wird es dann im Bezirk geben. Aber die Zahl steigt weiter, und „ab 2014 müssen neue Räume her“. Sogar ehemalige Horträume in Kellern wurden schon in Klassenzimmer verwandelt.
Dabei hatte sich zwischen 1996 und 2006 die Lichtenberger Schülerzahl halbiert. Überall im Bezirk wurden Schulen geschlossen – nur nicht in Karlshorst. Die Schulen in dem Ortsteil mit einer eher guten sozialen Struktur verstanden es, Schüler aus bildungsorientierten Familien der umliegenden problematischen Wohngebiete anzuziehen. Vier Grundschulen gibt es hier, drei davon haben ein Profil, das es ihnen erlaubt, Schüler aus der ganzen Stadt aufzunehmen. Die Lew-Tolstoi-Grundschule ist Berlins einzige deutsch-russische Europaschule, die Richard-Wagner-Grundschule ist musikorientiert und die BIP-Kreativitätsschule eine privat betriebene Ganztagsschule mit vielen zusätzlichen Unterrichtsangeboten.
Dominique Spangs Tochter besucht in der Letzteren eine vierte Klasse. Die Physiotherapeutin wohnt in Oberschöneweide und bringt das Mädchen jeden Tag in die Schule, die in der Nähe ihrer Arbeitsstelle liegt. „Um nichts in der Welt wollte ich meine Tochter in Schöneweide einschulen“, sagt sie. „Erst kürzlich wollte da jemand ein Gebäude abfackeln, das brauche ich nicht. Und Gewalt in der Schule auch nicht.“
An einer staatlichen Schule in Karlshorst bekam die Tochter keinen Platz. Blieb die Privatschule. „Ich zahle zwar eine Menge Schulgeld, aber dafür kann meine Tochter zwischen Zusatzangeboten wie Schach, darstellendem Spiel, Computerkursen und musikalischem Gestalten wählen“, sagt Spang. Unterrichtsausfall sei ein Fremdwort. Die Mitschüler kämen aus bildungsorientierten Familien aus ganz Lichtenberg, Treptow-Köpenick und Friedrichshain.
Doch inzwischen fehlen Grundschulplätze – das erweiterte Einzugsgebiet, das die Karlshorster Grundschulen in den vergangenen 15 Jahren vor der Schließung rettete, ist vom Segen zum Fluch geworden. Anderswo in Lichtenberg sieht es günstiger aus: Hier stehen Schulgebäude, die in den Jahren von Geburtenknick und Wegzug geschlossen wurden und die Schulstadträtin Beurich 2006, als wieder steigende Schülerzahlen abzusehen waren, vor dem Abriss bewahrte. Sieben solcher Gebäude, inzwischen teilweise durch Vandalismus zerstört, sollen in den kommenden vier Jahren saniert und neu eröffnet werden, zwei schon im kommenden Sommer. Das Land finanziert zwei Sanierungen, für die anderen fünf gehen etwa 90 Prozent der bezirklichen Investitionsmittel drauf.
Smartboards im Container
In Karlshorst gibt es keine stillgelegten Schulen, hier heißt die Lösung: Container. Die sollen ab dem Sommer zwei Grundschulen vergrößern, verrät die Schulstadträtin, „wenn das Abgeordnetenhaus die Gelder bewilligt“. Ansonsten müsste die deutsch-russische Europaschule aus Karlshorst wegziehen. „Denn von den 240 Europaschülern kommen nur 24 aus Karlshorst“, sagt Beurich. Das Gebäude könnte dann von Karlshorster Kindern genutzt werden. Sie könne deren Eltern schließlich nicht erklären, dass ihre Kinder am anderen Ende des Bezirks zur Schule gehen müssten.
Das Problem der überfüllten Schulen gibt es nicht nur in Karlshorst. Auch in Pankow, in Teilen von Tempelhof-Schöneberg und in Mitte seien Schulplätze knapp, sagt Regina Kittler, Schulexpertin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. In absehbarer Zeit werde die ganze Stadt betroffen sein. „Unsere Fraktion hat errechnet, dass Berlin 50 neue Grundschulen braucht“, sagt sie. Auf eine parlamentarische Anfrage der Linken hin habe die Bildungsverwaltung eine ältere Prognose korrigiert und eingeräumt, dass die Zahl der Kinder im schulpflichtigen Alter in den kommenden zehn Jahren um 20 Prozent steigen werde. Die Schulschließungen in den Ostbezirken bis zum Jahr 2006 bezeichnet Kittler als Fehler – „aber aus finanzieller Not heraus waren die Bezirke dazu gezwungen, um Betriebskosten zu sparen“.
Nun müssen teure Provisorien aushelfen. Zwei Millionen Euro kostet ein dreigeschossiger Containerbau. Den Begriff „Schulcontainer“ hört die Schulstadträtin nicht gern, das klinge wie Unterricht aus der Mülltonne. „Wir sprechen von mobilen Unterrichtsräumen“, sagt Beurich. Und die seien zwar teuer, aber oft die modernsten in der ganzen Schule.
Tatsächlich: Im Karlshorster Coppi-Gymnasium steht bereits so ein dreigeschossiges mobiles Gebäude. Musik, Geografie, Physik und Chemie werden darin unterrichtet. Elftklässler Jonas Ranisch sagt, die Ausstattung sei moderner als im Altgebäude aus den 30ern, die Wege zwischen den Räumen kürzer. Achtklässler Fin schwärmt von den Smartboards in den Räumen – und erläutert: „Das sind Tafeln, mit denen man ins Internet kann.“