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Archiv-Artikel

Nach dem Wasser der Schlamm

FLUT Wie geht es jemandem, der seinen Freunden in Grimma nach der Flut hilft, aufzuräumen?

In der Not ist Solidarität für viele wie Pflicht. Solidarität im Kampf gegen den Schlamm – die Patina der Flut

VON PHILIPP BRANDSTÄDTER

Von der Jahrhundertflut haben sie gesprochen. Sie meinten jene vor elf Jahren. Grimma, die Stadt in Sachsen, war unser Synonym dafür. Ich habe geglaubt, so eine Katastrophe rauscht nur einmal im Jahrhundert durch den Ort. Jetzt schaue ich auf das Haus von Freunden. Sie sind gerade erst ans Ufer gezogen. Die Wände schlagen Wellen, Treppenstufen versinken im Morast. Die Gipsplatten, die für die letzten Renovierungsarbeiten gedacht waren, sind aufgeweicht, manche von ihnen auch fortgespült. In der Nacht stand die Mulde bis zum ersten Stock.

Die Ladenbesitzer aus der Innenstadt, die erst vor ein paar Jahren ihr ganzes Geld in den Neuaufbau steckten, wollten es nicht glauben. Die Nachbarn, die ihre Keller und Erdgeschosse nicht ausräumten, weil die Flut doch gerade erst da war, wollten es nicht glauben. Wir, wir alle waren uns sicher: Das kann unmöglich schon wieder passieren.

Doch das Wasser kam, schneller als erwartet. Vier Jahre schneller, um genau zu sein. Erst dann wäre der zwei Kilometer lange Schutzwall fertig gewesen, der die Mulde rund um die Stadt in ihr Flussbett zwingen soll.

Es ist nicht die reißende Sintflut, die Grimma diesmal heimgesucht hat. Keine fortgespülten Häuser und Straßen, keine umgeknickten Laternen, keine übereinandergestapelten Autos. Das Hochwasser stieg langsam. Trotzdem wollten die Dämme aus Sandsäcken nicht halten. Trotzdem brach die Mulde wieder in die Altstadt von Grimma. Wieder flohen ihre Bewohner zu Familien und Bekannten, einigen blieb nur ein Feldbett in der Turnhalle. Kleider aus der Sammelstelle, Eintopf aus der Gulaschkanone.

Das Wasser kam

Am Abend hat die Polizei die Stadt gesperrt und die Leute fortgeschickt. Ich sitze vor der Website der Hochwasserzentrale und checke Pegelstände. Aktualisieren, aktualisieren, in Gedanken verloren hacke ich auf der F5-Taste herum. Die bedrohlichen pinkfarbenen Zahlen der Hochwasserzentrale beginnen Angst einzuflößen. Grimma: 7,83 m. Warten auf die Scheitelwelle. Hoffen, dass das Wasser schnell verschwindet, sich endlich zurückzieht, weniger wird – wenngleich schleichend. Und dann?

Zurück bleibt der Schlamm.

Auf den Straßen, an den Mauern, in den Wohnungen, überall. Ein brauner Film überzieht die Stadt, kriecht auch mir in die geliehenen Gummistiefel. Mit ihm der Geruch. Es stinkt nach modrigem Sumpf, nach frischem Beton und nach allem anderen. Miefender Schlamm, bis zu den Knöcheln. Die Bewohner zerren nasse Matratzen, Kisten, Regale auf die Straße. Geredet wird wenig. Bloß Köpfe geschüttelt.

Schlamm, überall Schlamm, der so schnell wie möglich aus den Häusern muss. Lässt man ihn, wird er schnell knüppelhart und wirft Risse, wie Lehm auf einem ausgetrockneten Acker.

Mit einer Schaufel bewaffnet wate ich zuerst noch durch eine ölige Brühe, stoße gegen ausgewaschene Pflastersteine. Halme, Plastiktüten, Glassplitter und Styroporflocken schwimmen an mir vorbei. Wenig später ist die Pampe schon so fest, dass die Abdrücke meiner Stiefel in ihm stehen bleiben. Die Nachbarin erzählt, dass es nicht einmal ihre Spülmaschine schafft, das Geschirr vom Morast zu befreien. Und die Haushaltsgeräte und Spielwaren konservieren den Gestank in ihrem Kunststoff.

3.000 Helfer schwärmen auf den Marktplatz und melden sich im roten Zelt. Freunde, Familienmitglieder, Leute aus angrenzenden Dörfern, aber auch viele junge Leute, die den Hilferufen auf Facebook gefolgt sind und nun Fremden helfen. Sie lassen sich auf Listen setzen, schippen mit Schneeschiebern den Schlamm aus den Häusern. Spritzen die Fassaden ab. Fahren Spenden zur Sammelstelle, tragen aufgeweichte Möbel auf den Sperrmüll, kämmen Treibgut aus den Bäumen, aus der Hängebrücke, kratzen Fische vom Kopfsteinpflaster. Wie vor elf Jahren schon.

Denn in der Not ist Solidarität für viele wie Pflicht. Solidarität im Kampf gegen den Schlamm – die Patina der Flut. Selbst nach einem Vollbad bleibt sie als rauer Film auf meiner Haut zurück, verfilzt Haare, riecht nach irgendetwas.

Keine Woche später ist die Altstadt besenrein. Strom, Wasser, Kanalisation, als sei nichts gewesen. Grimma hat gelernt, eine Katastrophe zu überstehen. Jetzt fängt die Stadt von vorn an, auf einem schmalen Grat zwischen hoffnungsarmer Endzeitstimmung und trotzigem Enthusiasmus. Diesmal mit der Erfahrung, die die Menschen in Mühlberg, Deggendorf und Elster gerade machen und die Magdeburg, Wittenberge und Lauenburg noch vor sich haben.

Das Wasser ging

Die ersten Helfer haben die Stadt verlassen, ab jetzt herrscht Fachkräftemangel. Die maroden Mauern werden eingerissen, Putz wird abgeklopft, Böden erneuert. Tagelang brummt die Trocknungstechnik in den Häusern. Danach: Schäden kalkulieren, Spenden verteilen, die Realität begreifen. Das Technische Hilfswerk schleppt die Sandsäcke aus der einen geretteten Stadt nordwärts in die nächste bedrohte Gemeinde, die noch niemand aus den Nachrichten kennt.

Jetzt drängen sich die Fragen auf, die auch meine Freunde bei ihren Aufräumarbeiten noch vor sich herschieben konnten: Wie weiter? Ein neuer Neuanfang? Oder weg von hier? Die Versicherungen zahlen keinen Cent. Hochwasserstufe vier. Ob Deutschland noch einmal so bereitwillig spendet, ist unwahrscheinlich. Es sind viel mehr Flutopfer auf Hilfe angewiesen als 2002. Die Altstadtbewohner diskutieren, ob es sich lohnt zu bleiben. In den Muldedörfern Löbnitz, Glaucha und Gruna im Norden von Leipzig werden schon Unterschriften gesammelt. Die Mehrheit ist für eine Umsiedlung. Die Bewohner wollen ihre Dörfer aufgeben.

Doch Grimma spricht sich Mut zu. Die vielen Helfer haben den Leuten Kraft gegeben. Sie hängen Transparente über Haustüren. „Wir machen weiter“. „Grimma Kopf hoch!“ „Gemeinsam schaffen wir das noch einmal“. Die Schutzmauer soll die Mulde für immer aus der Stadt halten. Ein Jahrhundert lang bis zur nächsten Flut.