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Archiv-Artikel

„Die Diskussion gibt Mädchen Mut“

Heute vor einem Jahr wurde Hatun Sürücü auf offener Straße erschossen. Weil sie ein ganz normales Leben führen wollte. Seitdem läuft deutschlandweit die Debatte über so genannte Ehrenmorde. Die taz fragt: Was hat sich verändert in Berlin?

Kein Tabu mehr

Eren Ünsal, Sprecherin des Türkischen Bundes Berlin (TBB):

„Es hat sich etwas sehr Entscheidendes verändert. Denn heute wird über Themen wie Ehrenmord und Zwangsheirat geredet, sie sind mittlerweile enttabuisiert. Es gibt in der Debatte unterschiedliche Positionen, aber nun wird das Problem benannt, es ist nicht mehr merkwürdig, darüber zu reden. Früher gab es auf allen Seiten eine starke Verleugnung solcher Probleme. Ich merke heute auch im Kontakt mit Jugendlichen: Sie trauen sich mehr als früher, darüber zu reden. Es entstehen Projekte, Arbeitsgemeinschaften, Netzwerke. Auch die Schulen sind sensibilisierter, Lehrer trauen sich, Schülerinnen und Schüler direkt und aktiv auf solche Themen anzusprechen. Das ist sehr wichtig. Aber man darf das auch nicht schönreden: Wir stehen immer noch am Anfang, die Probleme zu lösen. Das ist eben ein schwieriges Thema.“ awi

Aufklärung ist gefragt

Hüseyin Midik, Berliner Vorstandsmitglied der Türkisch-islamischen Union der Anstalt für Religion (Ditib):

„Wir haben den Mord an Hatun Sürücü zum Anlass genommen, noch mehr als bisher darüber zu reden, wie der Islam verstanden und gelebt werden soll. Unsere tägliche Arbeit besteht ja in der Aufklärung über unsere Religion. Wir wollen klar machen, dass die Menschenrechte im Islam ihren Platz haben und geachtet werden müssen. Das Bild, das Hatuns Bruder vom Islam hat, passt nicht zu unserer Auffassung von Religion. Leider wird in der laufenden Debatte diese Unterscheidung nicht gemacht und stattdessen generalisiert. Es wird einfach unterstellt, alle Muslime seien gleich. Diese Fehlinterpretationen ärgern mich, denn sie machen das Zusammenleben zwischen Deutschen und Muslimen schwieriger.“ sc

Mädchen wehren sich

Sevil Y. (21), türkische Muslimin aus dem Neuköllner Mädchentreff „Madonna“:

„Der Mord an Hatun hat mich sehr geschockt. Niemals hätte ich gedacht, dass so was in Deutschland passiert. Zwangsehen oder arrangierte Ehen, das alles kenne ich aus dem Freundeskreis, aber mit dem Thema Ehrenmord war ich vorher nicht konfrontiert. Zuerst wussten wir auch in unserem Mädchentreff nicht, wie wir damit umgehen sollen. Einige junge Mädchen fanden den Mord gerecht, weil Hatun wie eine Deutsche lebte. Inzwischen, nach vielen Gesprächen, sieht das keine mehr so. Im Gegenteil, die öffentliche Diskussion über diese Themen gibt den Mädchen Mut, sich zu wehren. Das finde ich gut. Solch eine Tat hat nichts mit dem Islam zu tun. Der Koran verbietet Mord und Selbstmord.“ sc

Tradition wird hinterfragt

Yasemin Özbey, Vorsitzende des Türkischen Frauenvereins:

„Der Mord an Hatun Sürücü hat das Thema Ehrenmord in die Medien gebracht. Dadurch ist die türkische Community gezwungen, sich dem Problem zu stellen und öffentlich zu äußern. Das ist positiv. Unter den Frauen, die zu uns in die Beratung kommen, gibt es schon lange viele, die unglücklich in einer Zwangsehe leben. Im vergangenen Jahr war deutlich zu spüren, dass viele jetzt offener über das Thema sprechen können. Gerade junge Frauen überlegen sich jetzt, ob ihnen Ähnliches wie Hatun passieren könnte. Aber auch wir Mitarbeiterinnen sind sensibler geworden für so etwas wie blinde Flecken in unserer Tradition. Deswegen sind wir vielleicht noch kritischer geworden und sagen den Frauen, dass man die Tradition nicht immer befolgen muss.“ sc

Türken sind ausgegrenzt

Birgit Krüger, pädagogische Leiterin des Ausbildungswerks Kreuzberg, wo Hatun Sürücü eine Lehre machte:

„Ich sehe die Diskussion sehr zwiespältig. Einerseits hat Hatuns Tod das Thema Ehrenmord ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Andererseits bedient die Debatte auch alte Vorurteile gegenüber Türken und grenzt sie damit aus. Wir in der Einrichtung kannten die Probleme, die Mädchen mit ihrer Familie haben. Aber der Mord an Hatun war für uns ein Schock. Die Sprachlosigkeit haben wir durch ein Projekt mit den Auszubildenden über Ehre, Achtung und Respekt überwunden. Uns war es wichtig, vor allem auch mit den jungen Männern über diese Themen zu reden, die sehr traditionell erzogen sind. Manch einer hat durch die Gespräche auch zu einer anderen Position gefunden.“ sc

Fragezeichen im Kopf

Hakan Aslan, Sozialpädagoge, arbeitet mit muslimischen Jungen:

„Das öffentliche Gespräch über Hatuns Schicksal hilft uns Sozialpädagogen, auch in muslimischen Jugendgruppen traditionelle Rollenbilder zum Thema zu machen. Die meisten islamisch geprägten Jungen sagen, ein muslimisches Mädchen darf keinen Freund haben. Ehre und der Schutz der Ehre sind für sie sehr wichtig. Ihrer Schwester nachzuspionieren ist für sie normal. Die Familie überträgt ihnen diese Aufgabe. Oft stehen die Jungen dadurch unter enormem Beweisdruck und überreagieren. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Als türkischstämmiger Mann habe ich das selbst erlebt. Deshalb will ich ihnen diesen Druck nehmen. Doch kaum ein Jugendlicher sagt, er würde morden, um die Ehre seiner Familie zu retten. Bei einigen entstehen nun die ersten Fragezeichen im Kopf. Aber das ist noch zu wenig. Die Diskussion muss weitergehen.“ sc

Politik bewegt sich

Günther Piening, Berliner Integrationsbeauftragter:

„Es eine große Sensibilisierung für die Situation muslimischer Mädchen im Alltag, für die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensentwürfe, für die Ächtung männlicher Gewalt entstanden. Der atmosphärischen Veränderung folgten aber auch konkrete Schritte. So wurde zum Beispiel in Schulen über solche Fragen diskutiert. Aber auch die Migranten-Community selbst stellt sich ihrer Verantwortung und fragt sich, wie sie in die Familien hineinwirken kann. Aber auch politisch hat sich was getan. Ich arbeite enger mit Migrantengruppen und Frauenprojekten zusammen. Wir wollen ein Klima schaffen, das Mädchen und Frauen unterstützt, eigene Wege zu gehen. Und den Tätern soll klar werden, dass es für ihr Handeln kein Verständnis gibt.“ sc