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Archiv-Artikel

Geilheit statt Geschichte

Die Revolution lässt die Hosen runter: Thomas Thieme inszeniert am Schauspielhaus Bochum „Dantons Tod“ von Büchner, und man weiß nicht, warum. Das Volk spielt „Rotkäppchen fickt den Wolf“, und die Revolutionäre entblößen ihre schlaffen Glieder

VON DOROTHEA MARCUS

Verkehrte Welt: Während Großschauspieler Thomas Thieme sich als Regisseur am Bochumer Schauspielhaus betätigt – zuvor hatte er sich vor drei Jahren in Weimar eher erfolglos, dafür spektakulär an Brechts Wüstling „Baal“ versucht –, hat sich Intendant Elmar Goerden in derselben Inszenierung als Bühnenbildner verdingt. Das erste Ergebnis der Ausweitung der Arbeitszone ist in „Dantons Tod“ eine riesige Kiste aus Sperrholzplatten. In der hinteren Wand ist hoch oben ein Schlitz: Dort kontrolliert St. Just (Marek Harloff) von einer kalt beleuchteten Kommandozentrale aus, wie die Revolutionäre und ihre Huren als Models auf Frachtkisten posieren. Niemand geizt hier mit seinen zweifelhaften Reizen: Wenn sich Danton oder Camille zu sehr in ihre Reden verstricken, plumpsen ihre Hosen wie von selbst und entblößen ihre schlaffen Glieder – ein Anblick, auf den man gerne verzichten würde.

Sind die Revolutionäre nur Spielfiguren, kurz bevor sich die Geschichtskiste schließt? Sind sie auf dem Höhepunkt des Revolutionsterrors aller einstigen Ideale entblößt? Machen sie sich durch ihre Reden so lächerlich? Fast wirkt es im Laufe des Abends, als wäre Thieme nichts anderes eingefallen, als durch eine penetrante Sexualisierung eines der grandiosesten Stücke der Theaterliteratur zu verflachen. In „Dantons Tod“, diesem in nur fünf Wochen dahingeworfenen Erstling des blutjungen Büchner, öffnen sich in jedem Satz Welten – kein Wunder, dass es auf deutschen Bühnen zu den meistgespielten Stücken gehört. Thiemes größter Verrat an ihm ist wohl, dass er fahrlässig über Büchners Sprache hinweggeht, sie dahinnuscheln lässt – oder durch Sex von ihr ablenkt.

„Ich will erzählen“, sagt die „heilige“ Hure Marion (Christine Schönfeld) in ihrer großartigen Liebes- und Todesszene zu Danton und erzählt die Geschichte von ihrer Jugenderweckung. Doch wie jämmerlich gehen ihre Worte unter, wenn man dabei nur noch den riesigen Kopf Thiemes sieht, der sich zwischen ihren Beinen abarbeitet, während sich ihm Marion wollüstig entgegenräkelt und verhaspelt. Thieme als Danton interessiert sich penetrant für die Dekorationsware Frau, legt sich geifernd Oberschenkel zurecht, gräbt sich in verschwenderische Dekolletés, greift zwischen allerlei Beine – und wenn die Frauen lästig werden, schmeißt er sie brutal von der Kiste. Ansonsten zupfen Frauen an Musikinstrumenten oder lehnen an den Schultern revolutionärer Männer – ein trauriges, ermüdendes Standbild, das fast drei Stunden lang durchgehalten wird.

Es geht, wie man weiß, in „Dantons Tod“ eigentlich um den Konflikt des Menschen Danton mit dem Ideologen Robespierre. Ernst Stötzner zeigt Robespierre dazu aber viel zu vital, als harmlosen Enthusiasten mit wehenden grauen Haaren – vom tugendhaften Fanatiker ist nichts zu spüren. Danton wiederum ist weder ein müder Zweifler noch ein großer Lebemann, sondern eher ein notgeiler und ziemlich aktionistischer alter Mann. Nur wenn er autistisch zu Cellokratzern taumelt und stöhnt, ahnt man, dass hier jemand aus seiner bisherigen Logik des revolutionären Tötens ausgestiegen ist und sich so in seinen eigenen Wahnsinn begeben hat. Kurz blitzt der Abgrund auf, bis die allgemeine Zerredung weitergeht.

Bei Regisseur und Schauspieler Thieme interessiert sich Danton für gar nichts: weder für sein persönliches Glück noch für seinen Ruhm in der Nachwelt, er ist allenfalls ein zynischer Depressiver, für den Sex letzte Triebabfuhr und die Revolution nur noch lästig ist. Die Ideale sind verloren, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit tragen Schweinchenmasken, das Volk spielt „Rotkäppchen fickt den Wolf“ – das Abendland führt sich selbst in den Abgrund, dorthin, wo am Ende auch die Guillotinierten auf eine Leiter steigen, fein säuberlich einer nach dem anderen: die Ordnung des Schreckens hat gesiegt, aber weder die Verzweiflung der letzten Nacht noch die Todesverachtung nimmt man ihnen ab. Einzig Lea Draeger als Camilles Gattin Lucille hebt sich ab von der allgemeinen Lustlosigkeit, wenn sie entrückt und trotzdem kindlich klar den anarchischen Schlusssatz „Es lebe der König“ in den Zuschauerraum ruft – ein absurder, tödlicher und hoffnungsvoller Tabubruch, der nachhallt. Es bleibt der einzige Lichtblick.