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Archiv-Artikel

Hier kommst du nicht raus

SCHLAGLOCH VON KERSTIN DECKER Westerwelle hat die Gladiatoren in die Arena geführt. Und alle schauen zu

Kerstin Decker

■ ist freie Autorin und lebt in Berlin. Zusammen mit Gunnar Decker schrieb sie das Buch „Über die unentwickelte Kunst, ungeteilt zu erben. Eine Deutschstunde“, erschienen 2009 im Dietz Verlag.

Reden wir über Rom! Mag sein, dass all jene recht haben, die Guido Westerwelle auf einem politischen Kamikazeflug sehen. Dafür ist er jetzt schon ganz schön lange in der Luft, fast zwei Wochen. Immerhin ließe sich dieses Überfliegertum beinahe noch heroisch deuten: Da ignoriert einer im Dienste der Wahrheit jedes politische Kalkül? Da sagt einer ganz ungeschützt, was er denkt? – Das mag sehr ungewöhnlich, sehr eigentümlich sein für einen Politiker, aber genau da liegt das Problem.

Denn es ist immer erschütternd, wenn ein, nun ja, nicht eben faltenreicher Verstand ausspricht, was er denkt. Der Mann ist immerhin unser Außenminister! Die spätrömische Dekadenz also.

Sie war, wie wir alle wissen – außer unserem Außenminister natürlich – eine Oberschichtendekadenz, oder besser, neutraler: eine Hochzivilisationsdekadenz. Es kommt nun darauf an, dies nicht moralisch zu verstehen, schon gar nicht links-linkisch-vorwurfsvoll. Denn es war überaus schade um Rom.

Vorbei war es erst einmal mit dem Recht, mit den Wissenschaften, mit den Künsten in ihrer selbstbewussten Form, und das fast eintausend Jahre lang. Stattdessen begann ein neuer, merkwürdiger Glaube zu regieren, dem das alles geradewegs vom Teufel war. So geht es Hochzivilisationen, wenn sie ins Stadium ihrer Dekadenz eintreten. Sie bemerken wie unser Außenminister fast nie die wirklichen Zeichen des Niedergangs, solange noch Zeit ist. Und dann plötzlich stehen das Christentum oder der Sozialismus in der Tür und keiner kann sich erinnern, dass sie angeklopft hätten.

„Wohlstand ohne Anstrengung“. Das einzig Bemerkenswerte an diesem Satz ist, dass er von einem Außenminister stammt. Wie lange mag Guido Westerwelle nachgedacht haben, um den Allgemeinplatz „Brot und Spiele“ so zu übersetzen?

Dabei ist unsere bedenkliche Nähe zu Rom schon oft bemerkt worden, nur ganz anders. Kritiker der televisionären Massenkultur haben das Amphitheater, das römische Faszinationstheater des Todes, längst als deren Urahn erkannt. Vielleicht bewahren uns die mentalen Prägungen von 2.000 Jahren Christentum noch vor der letzten Konsequenz, die zeitgenössischen TV-Gladiatorenkämpfe mit mortalem Ausgang zu konzipieren. Wahrscheinlich wollte Westerwelle auch gar nicht vorschlagen, allen Hartz-IV-Empfängern ihren Fernseher wegzunehmen. Schon Rom wusste schließlich: Besser, die Überflüssigen sitzen in der Arena, als dass sie vor der Arena Aufstände anzetteln.

Die römische Arena ist rund, die Suggestion ist wie bei Hartz IV: Hier kommst du nicht raus! Es ist unmöglich, nicht auf die Todeskämpfe in der Mitte zu schauen. Das ist die absolute Immanenz.

Erfindet unser Außenminister gerade das römische Amphitheater neu? Wer arbeitet, muss mehr haben als der, der nicht arbeitet. Klingt plausibel für jeden, der gerade eine Nachtschicht als Aufpackkraft im Supermarkt hinter sich hat für 4 Euro Stundenlohn. Westerwelle hat die Gladiatoren bereits in die Arena geführt: Seit fast zwei Wochen schauen wir zu, wie die Sklaven der modernen Arbeitswelt sich gegen die empören, die man gar nicht mehr gebrauchen kann. Auch die Gladiatoren des Alten Rom kamen meist aus der Unterschicht, ihrem gesellschaftlichen Rang nach standen sie noch unter den Sklaven.

Zeitarbeiter nennen die Agenturen, die sie ausleihen und vermieten, die modernen Sklaven. Wir Römer! Auch das Alte Rom war ein Rechtsstaat, auch seine Juristen haben es zu großer Raffinesse gebracht. Ein Sklave gehört sich nicht, nur ist es schwer zu leugnen, dass er sein Leben besitzt. Die Flucht eines Sklaven ist ein schwerstes Verbrechen: Der Selbstbesitzer raubt sich seinem Eigentümer! Das ist die römische Unterscheidung von Eigentum und Besitz. Nirgends kann man so unfrei sein wie einer freien Gesellschaft. Vor allem als bloßer Selbstbesitzer, als Hartz-IV-Empfänger oder Leiharbeiter, als Staats-Mündel. Herr Westerwelle, wussten Sie, dass das Wort Proletarier auch direkt aus Rom kommt? Es meint die, die wie Hartz-IV-Empfänger nichts mehr haben außer ihren Kindern. Nachkommen = proles. Wir haben das Wort Proletarier lange nicht mehr gebraucht, nicht weil es keine Arbeiter mehr gab, sondern weil sie anders bezahlt wurden als früher. Im 19. Jahrhundert bekam ein Arbeiter nur so viel, wie zur Aufrechterhaltung seiner Arbeitskraft unbedingt notwendig war. Da haben wir in unseren DDR-ML-Kursen nach Westen geschaut und gedacht: Der Marx spinnt!

Warum sollen diejenigen, die niemand braucht, sich eigentlich noch reproduzieren dürfen?

Erst mit den Arbeitsmarkreformen kehren wir zu Marx zurück, oder eben noch weiter bis in Alte Rom. Aber sind wir schon weit genug? Bewusste Abstraktion, Vereinseitigung im Munde eines Politikers sollte unter Strafe gestellt werden. Wer arbeitet, muss mehr haben als der, der nicht arbeitet, heißt konkret, also unter den Bedingungen der Wirklichkeit: Warum sollen diejenigen, für die niemand Verwendung hat, sich eigentlich noch reproduzieren dürfen?

Der Untergang Roms. Das Alte Rom ging auch an der Überdehnung seiner Grenzen, an seiner eigenen Globalisierung ein; sein Mittelstand, der es einst getragen hatte, war am Ende nicht mehr auffindbar. Bloß kommt nach solchen Untergängen gewöhnlich nicht das Paradies, sondern eine neue Steinzeit. Europa stand sehr bloß da mit seiner neuen, allem Diesseits, aller Kultur und vor allem dem Menschen selbst so tief misstrauenden Religion. Dabei mag kaum ein Römer davon gehört haben, dass irgendwo an den äußeren unruhigen Grenzen des Reiches ein Wunderrabbi gestorben war. Es war nicht wichtig; man wusste, in den eroberten Ländern glaubten sie an die seltsamsten Dinge. Erst wenn man sich klar macht, was da gesiegt hatte, versteht man, was da untergegangen war.

Aber einen Fortschritt gab es doch mit dem Sieg des Christentums. Sogar Sklaven waren ab sofort Menschen, zumindest vor Gott. Auch sie sollten jetzt eine Seele besitzen. Nur bei den Frauen war man sich da lange nicht sicher. Unsere heutige Gesellschaft ist ein einziges spätes Rom, Herr Westerwelle, sehr dekadent, sehr gefährdet. Vielleicht sollte man sie trotzdem erhalten?