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Archiv-Artikel

Stalinist und Herr der Wende

NACHRUF Ungarns Exregierungschef Gyula Horn ist am Mittwoch im Alter von 80 Jahren gestorben. Er öffnete 1989 für DDR-Bürger die Grenze zu Österreich

WIEN taz | Er war „einer der widersprüchlichsten“ und gleichzeitig „einer der begabtesten“ Politiker Ungarns. So sieht Ferenc Gyurcsány, Ungarns Expremier, seinen am Mittwoch verstorbenen 80-jährigen Vorgänger und Parteikollegen Gyula Horn.

Da ist viel dran. Die Welt wird Horn als Außenminister der Wendezeit in Erinnerung behalten, der sich neben seinem österreichischen Amtskollegen Alois Mock mit dem Seitenschneider am 27. Juni 1989 hinter dem Stacheldraht an der Grenze ablichten ließ. Das Loch im Eisernen Vorhang sollte wenig später tausende DDR-Touristen veranlassen, mit ihrem Trabi vom ungarischen Plattensee nach Österreich zu fahren. Horn und der damalige Ministerpräsident Miklós Németh sorgten auch dafür, das Michail Gorbatschow ruhig blieb. Im Fernsehen verkündete Horn, dass man die DDR-Bürger ungehindert ausreisen lasse.

33 Jahre vorher hatte der 1932 in Budapest geborene Horn noch eine ganz andere Rolle gespielt. Der einstige Mechanikerlehrling durfte in der Sowjetunion Finanzen studieren und machte dann in Partei und Regierung Karriere. Als die Sowjetunion im Oktober 1956 den Aufstand reformhungriger Ungarn mit Panzern plattwalzte, marschierte Horn noch in der „Steppjackenbrigade“, einer paramilitärischen Einheit, der Exzesse gegen Aufständische zur Last gelegt wurden. Über seine Rolle bei den anschließenden Säuberungen, bei denen die antikommunistischen Rebellen hingerichtet oder eingekerkert wurden, sprach Gyula Horn ungern.

Gerade in Ungarn erinnert man sich aber auch an das Vorleben des Politikers, der sich vom Stalinisten zum Reformkommunisten und zum marktliberalen Sozialdemokraten wandeln sollte. Während Horn in Deutschland mit dem Karlspreis geehrt wurde, verweigerte ihm Ungarns Präsident László Sólyom 2007 mit Hinweis auf seine dunkle Vergangenheit das Große Ungarische Verdienstkreuz.

Gyula Horn verwandelte den Reformflügel der alten KP in die sozialdemokratische Sozialistische Partei Ungarns MSZP und verhandelte 1990 den vollständigen Abzug der Roten Armee. 1994 führte er nach einem fulminanten Wahlsieg als Premier eine Koalitionsregierung an, die den EU-Beitritt vorbereitete. Das Volk dankte es ihm nicht. 1998 unterlag Horn dem 35-jährigen Jungpolitiker Viktor Orbán.

Seit einem Schlaganfall im Jahre 2007 lebte Gyula Horn zurückgezogen. Die letzten Jahre lag er im Koma. András Schiffer, Chef der grünen Partei LMP, kann sich zwar nicht mit Horns Politik identifizieren, würdigte aber dessen Rolle beim Übergang zur Demokratie. Vor allem aber habe der Verstorbene immer Wärme im Umgang mit einfachen Menschen gezeigt. RALF LEONHARD