: Die Könige der Zweckdienlichkeit
TIEFKÜHLKOST Die Briten lieben Fertiggerichte aus der Truhe. Von Chicken Tikka Massala mit Pilau-Reis bis zu Abscheulichkeiten wie „Kröte im Loch“
■ Der Markt: Nicht nur die Briten lieben Tiefkühlkost. In Deutschland ist der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch von 1998 bis 2008 um dreißig Prozent angestiegen. Im Schnitt hat damit jeder Deutsche 39 Kilo Tiefgefrorenes verspeist. Die Briten mehr als 45, Amis sogar mehr als 50 Kilogramm.
■ Kühlkette: Damit Gefriergut nicht verdirbt, darf die Kühlkette nicht unterbrochen werden. Fleisch und Fisch muss ständig auf minus 18 Grad gekühlt werden. So hält es bis zu zehn Monate. Tiefgekühltes sollte immer am Ende der Einkaufstour gekauft und in Kühl- oder Isoliertaschen transportiert werden. Man sollte die Produkte immer unaufgetaut zubereiten, sonst gibt es Vitamin- und Geschmacksverluste.
VON RALF SOTSCHECK
Die Briten sind eine Fertiggerichtnation. Sie verspeisen mehr „convenience food“ als alle anderen Europäer. Ein Viertel von ihnen isst mehr als einmal in der Woche solch eine „bequeme Mahlzeit“, in Deutschland sind es nur rund zehn Prozent. Zweieinhalb Milliarden Pfund ist der britische Fertiggerichtmarkt wert.
Michelle Strutton von der Marktforschungsfirma Mintel jubelt: „Die Briten sind die Könige der Zweckdienlichkeit. Der britische Fertignahrungsmarkt ist der bei weitem fortschrittlichste in Europa.“ Es würde eine breite Palette an aufregenden Mahlzeiten angeboten, um jedermanns Vorlieben möglichst angemessen zu befriedigen.
Zum Beispiel Chicken Tikka Massala mit Pilau-Reis, jenes pseudoindische Gericht, das in Wirklichkeit eine britische Erfindung ist. Selbst die englischen Lidl-Filialen verkaufen es. Die Zubereitung ist einfach: Papphülle abreißen, mit der Gabel ein paar Löcher in den Cellophandeckel pieken, vier Minuten in die Mikrowelle, Cellophandeckel abreißen – fertig. Wer Wert auf Etikette legt, kippt den Inhalt des Plastikcontainers auf einen Teller, aber man kann die würzige Hühnchenmahlzeit auch direkt aus dem Behälter essen.
Die Supermarktkette Tesco bietet sogar indische Familienboxen mit drei verschiedenen Gerichten an: Gemüse, Reis und Nan-Brot – alles mikrowellentauglich und gar nicht schlecht. Eine andere britische Supermarktkette hat sich ganz auf Tiefkühlkost spezialisiert. In den 750 Filialen von Iceland gibt es alles, was sich einfrieren lässt. Dabei verschlafen die Fertignahrungsproduzenten keinen Trend. Im Gegenteil – sie machen ihn sich zunutze und setzen derzeit auf gesunde Ernährung. Die Liste der Geschmacksverstärker und Konservierungsstoffe ist weitaus kürzer als noch vor zehn Jahren. Icelands chinesische Ente in Pflaumensauce hat vor zwei Jahren den ersten Preis für das beste neue Gericht gewonnen.
Natürlich gibt es in den Tiefkühltruhen auch die Abscheulichkeiten, die der englischen Küche ihren schlechten Ruf eingetragen haben, etwa „Kröte im Loch“: vier Würstchen in einem Yorkshire-Pudding-Mantel. Eine 300-Gramm-Dosis kostet ein Pfund. Neuerdings sind auch Mikrowellen-Fischstäbchen erhältlich, die man nicht mühsam von allen Seiten braten muss. Und selbst Hunde können sich über tiefgefrorene Fertiggerichte in den Varianten Rind, Huhn, Lamm und Hirn freuen.
Stadt der Tiefkühlnahrung
Die Wahrscheinlichkeit, dass die im Supermarkt erstandene Fertignahrung aus der Hafenstadt Grimsby stammt, ist groß. Viele Engländer sagen, man solle Grimsby meiden, wenn man nicht gerade Lust auf Schellfisch, eine Kneipenschlägerei oder ein spottbilliges Reihenhaus hat. Der berühmteste Grimbarian, wie die Eingeborenen sich nennen, war Roland Lloyd, der 1935 eine Fabrik eröffnete und Autos baute, auf die später der Satz gemünzt wurde: „Wer den Tod nicht scheut, fährt Lloyd.“
Grimsby lebte Jahrhunderte von der Hochseefischerei, auf ihrem Höhepunkt in den Fünfzigerjahren besaß der Ort den größten und betriebsamsten Hafen der Welt. Nach dem verlorenen Kabeljaukrieg mit Island in den Siebzigerjahren ging die Fischerei stark zurück. Stattdessen baute man Kühlhäuser, und zwar sehr viele. Grimsby verfügt heute über die europaweit größte Kühlfläche. 500 Lebensmittelfirmen haben sich in der Stadt angesiedelt, sie ist eine Hochburg der Lebensmittelforschung und der Herstellung von Fertiggerichten. Das hat Grimsby den Namen „Lebensmittelhauptstadt Europas“ eingebracht.
Und das wird sie wohl auch lange Zeit bleiben. Fast die Hälfte der Briten geht wegen der Rezession seltener ins Restaurant, isst stattdessen zu Hause – mehr als ein Drittel tut das vor dem Fernseher. Dazu passt zwar kein traditionelles „Sunday Roast“, der langsam im Ofen gegarte Rinderbraten mit schwerer Sauce, Röstkartoffeln, Karotten und Erbsen, aber natürlich gibt es auch das als Fertiggericht, das binnen vier Minuten serviert werden kann. Man muss es dann nicht mal am Tisch tranchieren, was deshalb eine aussterbende Kunst in Großbritannien ist.
Eine andere Kehrseite des Fertiggerichtbooms: Viele Kinder haben nicht die leiseste Ahnung, wo die Zutaten für ihre Mahlzeiten herkommen. Der britische Milchwirtschaftsverband hat bei einer Umfrage festgestellt, dass fünf Prozent der Kinder zwischen acht und fünfzehn glauben, Pommes wachsen an Sträuchern. Vierzehn Prozent sind hingegen überrascht, wenn sie hören, dass Karotten vom Bauern stammen. Und einen Sternekoch halten sie vermutlich für jemanden, der virtuos mit der Mikrowelle umgehen kann.
■ Ralf Sotscheck, Jahrgang 1954, ist Irland-Korrespondent der taz. Nach Verfassen dieses Artikels schob er sich erst mal ein Chicken-Tandoori-Tiefkühlgericht in die Mikrowelle