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Archiv-Artikel

Mehrheit der Bürger will die Bibliotheken der Städte und Kieze retten

BIBLIOTHEKSKRISE Aber die öffentlichen Lesesäle der Republik sind trotzdem gefährdet. Je nach Stadtgröße sind 40 bis 80 Prozent der Stadtbibliotheken von Kürzungen und Schließungen betroffen. In Kassel verfehlt Bürgerbegehren das nötige Quorum für den Erhalt

„Ganz viele Ideen, wie man die Öffnungszeiten erweitern könnte“

BIBLIOTHEKSKAMPF KASSEL

VON KATHRIN HEDTKE

Es sind nur ein paar Schritte über den Schulhof. Wer keine Lust auf Ballspielen und Pausenlärm hat, verkriecht sich in die Leseecke der Stadtteilbibliothek. Oder wenn es draußen regnet. „Die Bücherei wird immer genutzt: Nach der Schule, während des Unterrichts und in der Pause“, sagt die Leiterin der Grundschule Bossental, Sabine Dickel, in Kassel. Mehrmals pro Woche flitzen die Kinder rüber in die Bibliothek, holen Bücher über Märchen und Mittelalter, je nach Unterrichtsthema. „Das werden sie sehr vermissen.“ Aus Geldnot sollen drei Stadtteilbibliotheken in Kassel schließen, darunter auch jene auf dem Schulgelände im Ortsteil Fasanenhof. Was die Bevölkerung davon hält, ist eindeutig: Bei einem Bürgerentscheid sprachen sich am Sonntag rund 89 Prozent für den Erhalt der Büchereien aus. Um die Pläne zu stoppen, reichte das Quorum jedoch nicht aus. Die Wahlbeteiligung war zu gering.

Für einen erfolgreichen Bürgerentscheid hätten 25 Prozent aller wahlberechtigten Kasseler dafür stimmen müssen, es waren jedoch nur knapp 15 Prozent. „Das ist sehr schade“, sagt der Sprecher der Initiative „Rettet unsere Büchereien“, Jörg Kleinke. Aber das Ergebnis sei ein deutliches Signal. Die Stadtverordnetenversammlung muss nun noch einmal über das Vorhaben abstimmen. Kleinke hofft, dass die Abgeordneten dem Willen der Mehrheit entsprechen und die Pläne kippen. Zumal das Sparpotenzial „vergleichsweise gering“ sei: Um dem kommunalen Rettungsschirm beitreten zu können, hat sich die Stadt zu einem strikten Sparkurs verpflichtet – die Schließung der drei Bibliotheken soll den Haushalt um 360.000 Euro entlasten.

Es habe keinerlei Debatte über mögliche Alternativen gegeben, kritisiert Kleinke. Als er aus der Zeitung von den Plänen erfuhr, war für ihn klar: „Dagegen muss man was tun.“ Er gründete auf Facebook eine Gruppe, die rasch viel Unterstützung fand. Für das Bürgerbegehren zum Erhalt der Büchereien sammelten er und seine Mitstreiter innerhalb von zehn Tagen fast doppelt so viele Unterschriften wie nötig. Damit war der Weg frei für den ersten Bürgerentscheid in der Geschichte der Stadt.

„Die Resonanz war sehr groß“, berichtet der Sprecher. „Das Thema spricht die Menschen sehr an, weil es um Bildung geht.“ In den Wahlprogrammen werde stets die Bedeutung von wohnortnahen Bildungsangeboten betont, doch vor Ort werde das Gegenteil umgesetzt.

Die Proteste sorgten in der Stadt für Aufsehen: Ein Gaukler drehte auf einem Einrad seine Runden um die Infostände, es wurden Plakate geklebt, Bücher getauscht, Menschenketten gebildet und Videoclips gedreht. Auch die Schüler der Bossental-Schule zogen von Haustür zu Haustür und sammelten Unterschriften. Die Kinder hätten nur eine vage Vorstellung, was die Schließung der Bücherei bedeute, sagt die Schulleiterin. Für sie ist klar: „Es ist eine Katastrophe.“ Ein Ort des Rückzugs gehe verloren, auch die Vorleseprojekte seien ein großer Verlust. Natürlich könnten die Klassen künftig mit der Straßenbahn zur Bücherei in die Stadt fahren. „Das macht man vielleicht einmal im Vierteljahr“, sagt die Leiterin. Derzeit tapsen selbst die Kindergartenkinder aus der Nachbar-Kita regelmäßig mit ihren Erzieherinnen zur Bücherei und holen Bilderbücher.

Die achtjährige Lola geht in der Nähe in einen Hort. Sie findet es blöd, dass die Bibliothek schließen soll. Was sie vor allem vermissen wird? „Na, die Bücher.“ Angesagt ist bei ihr gerade „Liliane Susewind“, auch ihrer kleinen Schwester liest sie gern Geschichten vor. „Die gesamte Familie nutzt die Stadtteilbibliothek“, berichtet ihre Mutter, Leonie Blume. Der Schwiegervater erwäge, in der Bücherei ein Schachcafé anzubieten. „Das ist das Tolle an der drohenden Schließung. Es kommen ganz viele Ideen aus den Stadtteilen, wie man die Öffnungszeiten erweitern könnte“, sagt Blume. Viele Rentner wollten sich einbringen.

Denn ein Argument für die Schließung der Stadtteilbibliotheken lautet, sie würden zu wenig genutzt. Nach Ansicht der Grafikerin ist das vor allem den kurzen Öffnungszeiten geschuldet. „Jahrelang wurde ausgedünnt“, sagt Leonie Blume. Die Bücherei in Fasanenhof beispielsweise hat dreimal pro Woche je drei Stunden geöffnet. Die berufstätige Mutter schafft es nur selten, genau diese Zeiten abzupassen. Deshalb muss sie schon jetzt oft auf die Bücherei in der Innenstadt ausweichen. „Obwohl es viel praktischer wäre, die Bibliothek in der Nähe zu nutzen“, sagt sie.

Die Situation ist vielerorts ähnlich. Die Schließungen von Büchereien sich nach Ansicht der Geschäftsführerin des Deutschen Bibliotheksverbands, Barbara Schleihagen, nur „die Spitze des Eisbergs“. Die Abwärtsspirale setzt schon viel früher ein: Erst wird bei den Personalkosten gespart, der Etat für neue Anschaffung gekürzt und die Öffnungszeiten reduziert. Durch die Finanzkrise habe sich die Situation noch einmal deutlich verschärft, berichtet die Geschäftsführerin. Viele Kommunen leiden unter Geldnot – und Büchereien gehören zu den sogenannten freiwilligen Leistungen. „Deshalb sieht die Lage für viele öffentliche Bibliotheken schlecht aus“, sagt Schleihagen. Dem „Bericht zur Lage der Bibliotheken 2012“ zufolge sind bundesweit über 40 Prozent der Bibliotheken von Kürzungen betroffen, in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern sind es sogar 80 Prozent.

Fehlende Wertschätzung ist nicht das Problem. Es gebe ein Bewusstsein dafür, dass Bibliotheken nicht nur Kultur-, sondern auch Bildungseinrichtungen seien, sagt die Geschäftsführerin. Spätestens seit PISA und der Leo-Studie, derzufolge es 7,5 Millionen Analphabeten in Deutschland gibt, werde der Förderung der Lesekompetenz zentrale Bedeutung zugemessen. Die Untersuchungen haben gezeigt, dass 20 Prozent der 15-Jährigen nicht richtig lesen können. „Das sind erschreckende Ergebnisse“, betont Scheihagen. Es sei kontraproduktiv, ausgerechnet bei den Stadtteilbibliotheken zu sparen. Kinder und Jugendliche legten keine weiten Wege zurück. „Sie brauchen vor Ort ihre Bibliothek im Viertel. Das ist absolut notwendig.“

In der Bevölkerung gibt es regelmäßig Proteste, wenn an Büchereien gespart werden soll. Zum Beispiel in Essen: Dort erreichte eine Initiative kürzlich mit der bloßen Ankündigung eines Bürgerbegehrens, dass der Stadtrat von seinen Kürzungsplänen abrückte. Ein solches Happy End ist jedoch selten. In Hannover sammelte eine Bürgerinitiative 25.000 Unterschriften, um die Schließung der Stadtbibliothek Limmerstraße zu verhindern. Vergebens. Zum 1. Juni wurde der Standort im Stadtteil Linden dichtgemacht.

Auch im südhessischen Darmstadt wurden – trotz Protests – zum 1. März zwei Stadtteilbibliotheken geschlossen. Bis dahin spazierten einmal pro Monat die Grundklassen der benachbarten Mornewegschule in die Bessunger Zweigstelle, ein Fußweg von etwa zwei Minuten. „Mit dem Ergebnis, dass am Ende der vierten Klasse alle Kinder die Bibliothek allein und selbstständig nutzen konnten“, berichtet Catharina Frank, Vorsitzende des Schulelternbeirats.

Nun hält um die Ecke einmal pro Woche der Bücherbus, mittwochs von 10 bis 12 Uhr – eine Zeit, zu der die meisten Menschen arbeiten oder in der Schule sind. Dennoch: „Die Kinder finden den Bus super“, sagt Frank. „Aber er ist keine Alternative zur festen Bücherei.“ Rund 3.000 Kinderbücher aus den Beständen der Bessunger Zweigstelle lagern nun in Kartons in der Mornewegschule. Geplant ist eine ehrenamtlich geführte Schülerbibliothek. „Die Schule träumt davon, die Bücherei dann wieder zum Stadtteil zu öffnen“, berichtet die Elternvertreterin. „Es fehlt einfach eine Anlaufstelle im Stadtteil.