Rache an den Sunniten

Milizen des Schiitenführers al-Sadr ziehen nach dem Anschlag auf einen Schrein mordend durch Bagdad

aus Kairo KARIM EL-GAWHARY

„Die letzten 20 Stunden waren das Schlimmste, was ich jemals erlebt habe. Noch nie hatte ich so viel Angst wie nach dem Anschlag auf den schiitischen Askarija-Schrein“, erzählt die 39-jährige Intisar mit zitternder Stimme Donnerstag morgens am Telefon in Bagdad. Das will etwas heißen. Das Leben ihrer vierköpfigen sunnitischen Familie ist eine Ansammlung von Horrorerlebnissen: ein Krieg gegen den Iran, zwei gegen die USA und 12 lange andauernde Jahre UN-Sanktionen.

Die Sozialarbeiterin hatte die Fernsehbilder der zerstörten goldenen Kuppel des schiitischen Heiligtums in Samarra am Mittwoch zunächst nur als einen weiteren der alltäglichen Terroranschläge wahrgenommen. Doch schon bald merkte sie, dass das kein Tag wie jeder andere würde. Mittags gingen in der Einkaufsstraße in ihrem gemischt sunnitisch-schiitischen Viertel die Rollos aller Läden runter. Kurz darauf waren die Straßen wie leer gefegt. Und dann kamen sie aus dem benachbarten schiitischen Viertel, auf Kleinlastwagen, in schwarzen Uniformen, bewaffnet mit Panzerfäusten und Kalaschnikows: die Mahdi-Milizen des Schiiten-Führers Muktada al-Sadr. Von Militär und Polizei war nichts zu sehen, geschweige denn von US-Soldaten. „Es war, als hätten die Mahdi-Milizen nur auf diese Gelegenheit gewartet“, bemerkt Intisar. Zusammen mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern verbarrikadierten sie sich in ihrem kleinen Einfamilienhaus. Aus den benachbarten Straßen waren immer wieder lange Schusswechsel zu vernehmen.

Dann stürmten die Mahdi-Leute selbst durch ihre kleine Nebenstraße, brachen in ein Haus ein, um den sunnitischen Nachbarn mitzunehmen. Er hatte Glück. Seine Frau warf sich vor den Milizionären auf die Knie und bat um das Leben ihres Mannes. Die Mahdi-Leute ließen ab. „Wir kommen wieder“, erklärten sie und zogen weiter.

Immer wieder klingelte Intisars Telefon mit neuen Meldungen. Sie weiß von drei Männern in unmittelbarer Nachbarschaft, die mitgenommen wurden, darunter auch der Imam der lokalen sunnitischen Moschee und ein Lehrer. „Sie sind wahrscheinlich alle tot“, glaubt Intisar.

„Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan, immer gedacht, wir sind Sunniten, sie kommen auch zu uns“, erinnert sie sich an die vergangene Nacht. „Was wird mit uns passieren“, wurde sie von ihrer jüngeren Tochter Samah gefragt, die wie ihre Schwester Sarah seit zwei Tagen nicht mehr zur Schule geht. Die Töchter hatten zusammen mit den Eltern die Berichterstattung über den Anschlag verfolgt, für den sich bisher niemand verantwortlich erklärt hat, der aber radikalen Sunniten al-Qaidas zugerechnet wird. „Was sind eigentlich Terroristen, sind das Schiiten oder Sunniten?“, hakte Samah nach. Und: „Sind diese schwarzen Männer da draußen auf der Straße auch Terroristen?“ Was passiert, wenn die Mahdi-Leute ins Haus kommen und Samah das Gleiche fragt, denkt Intisar.

Immer wieder liefen im Fernsehen Aufrufe verschiedener Politiker zur irakischen Einheit. „Glaub ihnen kein Wort“, meint Intisar dazu. Noch nie sei die Kluft zwischen Schiiten und Sunniten tiefer gewesen. „Warum werden wir Sunniten für dieses Attentat auf den schiitischen Schrein verantwortlich gemacht? Das war ein Angriff gegen uns alle!“

Am Donnerstagmorgen wurde es ruhiger. Nur noch vereinzelt sind Schüsse zu hören. Die US-Armee hat schließlich die Brücken zum benachbarten schiitischen Armenviertel blockiert. Immer wieder fliegen Hubschrauber die Gegend ab. „Wir sind noch einmal davongekommen“, spricht sich Intisar Mut zu. Aber sie glaubt, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis der Bürgerkrieg vollends ausbricht.

Niemand hat den Überblick, wie viele Menschen genau in Folge des Anschlages auf den Askarija-Schrein verschleppt und ermordet wurden. Agenturen sprechen von rund 130 aufgefundenen Ermordeten. Die sunnitische Vereinigung islamischer Rechtsgelehrter hat Racheangriffe auf 168 sunnitische Moscheen gezählt. Zehn sunnitische Imame sollen ermordet worden sein, 15 weitere gelten als vermisst.

In der zweitgrößten irakischen Stadt Basra brachen die Mahdi-Milizionäre in ein Gefängnis ein, holten 12 Insassen heraus, darunter zwei Ägypter, zwei Tunesier, ein Libyer, ein Saudi und ein Türke, folterten sie und brachten sie anschließend um.

Auch Journalisten wurden nicht verschont. Die Leichen einer bekannten Korrespondentin der arabischen Fernsehstation al-Arabia und zweier Kollegen der arabischen Al-Wassan-Medienfirma wurden am Donnerstag in der Nähe Samarras gefunden. Sie waren nach Samarra gereist, um über die Reaktion auf die Zerstörung des Schreins zu berichten.

Der politische Prozess liegt in Scherben. Die Formierung einer neuen Regierung der nationalen Einheit ist auf Eis gelegt. Das wichtigste sunnitische Parteienbündnis, die Front der Nationalen Einheit, hat die Gespräche über eine Regierungsbildung ausgesetzt. Das Bündnis verfügt über 44 von 275 Abgeordnetensitzen. „Wir warten auf klare Worte der Ablehnung der schiitischen Koalition, was die Angriffe auf sunnitische Moscheen und auf die Büros der Islamischen Partei angeht. Aber bisher haben wir nichts gehört“, erklärte ein Sprecher der sunnitischen Islampartei, die zuvor das Attentat auf den schiitischen Schrein als feige Tat verurteilt hatte. Raschid al-Asawi beschuldigte auch die Regierung, nicht für genügend Schutz gesorgt zu haben. In einigen Fällen wurde gar der Vorwurf laut, dass einzelne Mitglieder der Sicherheitskräfte mit den Mahdi-Milizen bei den Racheaktionen zusammengearbeitet haben sollen.

Die bisherige Regierung versucht die Lage zu beruhigen. „Wir sind mit einer Verschwörung konfrontiert, die die irakische Einheit zerstören will“, erklärte Präsident Dschalal Talabani und fügte hinzu: „Wir sollten uns zusammenschließen, um einen Bürgerkrieg zu verhindern.“

Viele Iraker sehen den schiitischen Rachefeldzug auch als Machtdemonstration, wenn es um die Verteilung der Ressourcen und der Ministerämter geht. Doch unter den Schiiten herrscht keine Einigkeit. Der einflussreiche Großajatollah Ali al-Sistani wies seine Anhänger an, jeden Angriff gegen sunnitische Moscheen zu unterlassen, und ordnete eine siebentägige Trauer an, um des Anschlags auf den Askarija-Schrein zu gedenken. Der radikale Schiitenführer Muktada al-Sadr rief die Milizen dagegen auf, die heiligen schiitischen Stätten im ganzen Land zu verteidigen. Über den Rachefeldzug seiner Leute gegen die Sunniten verlor er kein Wort.