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Archiv-Artikel

Tanz auf dem Schutt der Stadt

Die schlimmste Plage für die Stadt nach dem Hurrikan „Katrina“ ist die Regierung, meinen die Einwohner von New Orleans

AUS NEW ORLEANS ADRIENNE WOLTERSDORF

Sie tanzen wieder. Durch die engen Straßen des French Quarter von New Orleans paradieren Hexen, Indianer und Fantasiegeschöpfe. Mit Jazz, Bier und unter lautem Gejohle posaunen die ausgelassenen Gestalten in die Welt hinaus: Wir feiern, also sind wir! Trotzig wirken sie, auch ein bisschen unsicher. Darf man auf den Ruinen einer zerstörten Stadt tanzen?

Manche Karnevalisten haben sich als Katastrophenhelfer kostümiert, sie ziehen weiße Miniwagen. Auf ihnen steht „No place like home“ – zu Hause ist’s am schönsten. Bittere Ironie angesichts der immer noch hunderttausende Bewohner von New Orleans, die auf die Rückkehr in ihre Häuser hoffen und warten. Erst waren sie Opfer der größten Naturkatastrophe der USA, heute sind sie Opfer der beispiellosen Inkompetenz der nationalen Katastrophenschutzbehörde Fema.

Die Paraden des „Mardi Gras“ jedenfalls, einst feucht-fröhliches Zweckbündnis von Schwarz und Weiß, Arm und Reich, Enthemmten und Schüchternen, sind wieder so, wie sie vor 50 Jahren waren. Als New Orleans eine kleine, lediglich von Nachfahren europäischer Einwanderer und Kreolen bewohnte Stadt war. Les bons temps are back, denkt so mancher. „Katrina“ und die Fluten haben die Stadt wieder auf ihre Struktur aus der Mitte des 19. Jahunderts reduziert.

„Man musste ja meinen, New Orleans sei völlig schwarz“, knurrt Don Gagnon, wenn er an die Berichterstattung über New Orleans nach „Katrina“ denkt. Gagnon, 54, steht in der Küche und schrubbt Terrakottafliesen. Draußen vor dem Haus hat er auf dem Rasen Teller und Auflaufformen zum Trocknen ausgebreitet. Davor steht ein blaues Plastikschild mit der Aufschrift „We’re back home“ – „Wir sind zurück“. Das Haus, dessen Küche er wieder in Gang zu bringen sucht, hat er von seinem Urgroßvater geerbt.

Das bemerkenswerte Gebäude in Form einer chinesischen Pagode hat als eines der wenigen im Stadtteil Lower Ninth Ward die Katastrophe unbeschadet überstanden. Nur ein Fenster hat der Hurrikan zersplittert. Gagnons Vorfahr hat umsichtig gebaut, auf einer Anhöhe, direkt an den Mississippideich geschmiegt, sodass das Haus nur einen Fuß tief unter Wasser stand. „Dampfschiff-Gotik“ nennt Gagnon den Baustil, den der französische Urahn, ein Mississippi-Kapitän und Schiffbauer, hier erfand. Früher führte Gagnon sonntags stolz Touristen durch das restaurierte Kleinod.

„Ich bin nicht traurig, dass die Schwarzen weg sind“, sagt er, angesprochen auf vom Sturm gerupfte Nachbarhäuser und die Totenstille im einst quirligen Viertel. Don Gagnon, Kapitän wie sein Urgroßvater, ist hier aufgewachsen und lebte bis vor wenigen Jahren selbst in seinem Haus. Dann kamen seine Kinder zur Welt – und die Gegend schien ihm nicht zuträglich für sie: Die Kriminalität in der immer schwärzer werdenden Nachbarschaft erreichte bedrohliche Ausmaße. Er vermietete das Pagodenhaus schließlich an eine Frauen-WG, deren Bewohnerinnen auf Mississippi-Kreuzfahrtschiffen jobben. Sie stört die Nachbarschaft nicht, die Frauen wollen zurückkommen, sobald es wieder Strom und Gas gibt.

Gagnon und seine Familie wurden selbst Hurrikan-Opfer. Ihr Einfamilienhaus in der angrenzenden St.-Bernard-Gemeinde wurde vollständig überschwemmt. Geblieben sind ihnen ein Haufen vergammeltes Holz und 1.000 Dollar Versicherungsentschädigung. „St. Bernard galt nicht als Überflutungsgebiet, daher hatten wir alle nur Sturmversicherungen, schön blöd von uns“, sagt er und rollt mit den Augen. In St. Bernard gelten nur noch 12 Prozent der Häuser als renovierbar. Gagnon hat sich längst ein neues Haus am Nordufer des Pontchartrain-Sees, 30 Meilen von New Orleans entfernt, gekauft. „Viele kritisieren Bürgermeister Ray Nagin. Ich finde, er hat die einzig richtige Entscheidung getroffen, nämlich die meisten Leute vorerst nicht nach New Orleans zurückzuholen.“ Nagin will er dennoch nicht mehr wählen, wenn er in einigen Monaten erneut kandidiert.

„Er hat’s letzte Woche mit mir vermasselt, und nicht nur mit mir“, sagt Gagnon grimmig. Der schwarze Bürgermeister, wegen seiner geringen Bemühungen um das Wohl der exilierten afroamerikanischen Bevölkerung kritisiert, hatte New Orleans in einer Ansprache als ehemalige und zukünftige „chocolate city“ – als Schokoladenstadt, bezeichnet. Prompt hagelte es Proteste und wüste Beschimpfungen. Vor „Katrina“ waren 67 Prozent der Stadtbevölkerung schwarz, heute rechnen Stadtforscher damit, dass knapp 80 Prozent der schwarzen Bevölkerung nicht mehr zurückkehren werden. Oder nicht zurückkehren können. Denn ihre Stadtviertel, so legen es verschiedene Wiederaufbaupläne nahe, sollen nicht mehr aufgebaut werden, da ihre Sicherung vor zukünftigen Überschwemmungen zu kostspielig wäre.

„Seitdem sie weg sind, ist die Kriminalitätsrate um 80 Prozent gesunken“, sagt Don Gagnon und hält inne, als sei dem nichts hinzuzufügen. „Jetzt schlägt sich die Polizei in Houston und Baton Rouge mit ihnen herum.“ Überhaupt, deren Mentalität passe nicht zu New Orleans. „Die wollen alles spendiert bekommen“, sagt er und schrubbt energisch seine Bodenfliesen.

Ein paar Straßen weiter, jenseits des geborstenen Deichs, der den Lower Ninth Ward ersaufen ließ, sagt Shaline LeDoux schüchtern, dass sie sich „schlecht fühlt“. Die afroamerikanische Krankenhaussekretärin und ihr Mann haben durch „Katrina“ das Haus verloren, das sie sich wenige Monate zuvor, nach zahlreichen Entbehrungen, gekauft hatten. „Ich musste mir noch nie von jemandem helfen lassen“, sagt LeDoux leise, als entschuldige sie sich dafür, überhaupt hier zu sein. Mit ihrer Schwägerin ist sie zu Common Ground Relief, einer kleinen privaten Hilfsorganisation, gekommen. Zum ersten Mal macht sie „so was“. Die beiden laden Dosenmöhren und Suppenpulver in ihr Auto. „Man sagt jetzt über uns, dass wir nur rumsitzen und nichts tun“, sagt LeDoux leise, „das stimmt auch, denn ich warte jeden Tag auf Lebensmittelmarken, auf Behördenbescheide, auf Strom, auf Gas, auf Gutachter, das ist entwürdigend. Schlimm, nein, das ist überhaupt das Schlimmste“, verbessert sie sich. Sie, ihr Mann und die Familie der Schwägerin leben seit drei Wochen gemeinsam in einer der „Trailer“ genannten mobilen Notunterkünfte auf der anderen Flussseite. Fast fünf Monate haben sie darauf gewartet. Die Schwägerin hat ihren Fema-Trailer noch immer nicht erhalten, obwohl auch ihr Haus völlig zerstört ist.

Ein paar Ecken weiter, hinter Bergen von Abfall, Schutt und Trümmern, gibt es ein kleines Handgemenge. In dem nahezu menschenleeren Viertel sind eine schwarze Frau und ein älterer, verwahrlost wirkender schwarzer Mann aneinander geraten. Erst als er verschwunden ist, beruhigt sich Corbe Johnson. „Die kommen jetzt und plündern, was das Zeug hält, das ist eine Schweinerei.“ „Die“, das sind die schwarzen Habenichtse, die, die „Katrina“ entwurzelt hat, die es ohnehin zu nichts gebracht haben.

Corbe Johnson ist keine von denen, sondern eine der Ersten, die sich um den Wiederaufbau kümmern in ihrer Straße, in der Wind und Wasser wundersamerweise nur mäßig gewütet haben. Drei andere Familien sind ebenfalls mit Handsägen, Hämmern und Schaufeln dabei, ihre Häuser zu räumen. Alle haben ganze Containerfüllungen verrotteter Teppiche, verschimmelter Matratzen und zerstörter Geräte auf die Straße bugsiert. Die 44-jährige allein erziehende Mutter eines Teenagers hat einen Klempner angeheuert, der gerade ihre Sanitäranlagen repariert. „Es war schwierig, die Erlaubnis zum Wiederaufbau zu bekommen“, sagt Corbe und erzählt, wie sie von Pontius zu Pilatus gerannt sei, obwohl ihr Haus kaum beschädigt wurde. „Als Schwarze musst du ja um alles kämpfen“, fasst sie ihre offenbar nicht ganz neue Lebenserfahrung zusammen.

Zum Glück kennt sie sich mit Behörden aus. Sie selbst arbeitet im Jugendamt der Stadt New Orleans und ist bis Mai beurlaubt. „Zum Glück, denn sonst könnte ich das alles gar nicht schaffen.“ Nach dem Sturm war sie bei ihren Eltern im Nachbarstaat Mississippi untergekommen, später schulte sie den Sohn in einer Schule in Baton Rouge ein, der Hauptstadt Louisianas, wo beide in einem Trailer leben. Wann immer es die Behördengänge erlauben, setzt sie sich ins Auto und quält sich gemeinsam mit tausenden anderer Exilanten durch den Stau ins 50 Kilometer entfernt gelegene New Orleans.

Dort angekommen, bleiben ihr nur die Stunden des Tageslichts, um an ihrem Haus zu streichen, zu hämmern und zu schrauben. Strom und fließendes Wasser gibt es noch nicht, das Telefonnetz soll frühestens im Juni wieder funktionieren. Bis Ende des Schuljahres wird Corbe Johnson im Trailer wohnen bleiben. „Das alles macht mich nicht ärgerlich“, sagt sie und lächelt. „Gott hat damit sicher etwas im Sinn gehabt; ein Weckruf für New Orleans vielleicht?“

Das glaubt auch Don Gagnon. Wie Corbe Johnson und fast alle New-Orleanser sieht auch er in der Katastrophe eine Chance. Zwar hat jeder seine eigene Vision eines geläuterten, besseren New Orleans. Allen gemeinsam aber ist die Gewissheit, dass die Regierung – nach „Katrina“ – die größte Plage für die Stadt ist. „Wenn man die Menschen nur machen ließe, wäre das meiste längst getan“, schimpft Gagnon. „Soll ich Ihnen ein Beispiel vom Sachverstand unserer Regierung geben?“, fragt er und kann einen Lachanfall nur mühsam unterdrücken. Sein denkmalgeschütztes, unversehrtes Haus sei, jawohl, von der Ingenieurseinheit der Armee als irreparabel auf die Bulldozing-Liste gesetzt worden. „Da kann man ja nur froh sein, dass die nicht von der Stelle kommen, oder?“