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Archiv-Artikel

Sehnsucht nach Freiheit, so riesengroß

EUPHORIE Vor 25 Jahren spielte Bruce Springsteen in der DDR – und unser Autor stahl sich weg von seiner NVA-Kaserne, um dabei zu sein. Es war das größte Rockkonzert der DDR-Geschichte

Springsteens Auftritt war als Beruhigungspille für die Ostjugend gedacht. Doch er bewirkte das Gegenteil

VON THOMAS PURSCHKE

Ich traute meinen Augen kaum, als ich im Juli 1988 in der Jungen Welt, dem Zentralorgan der Freien Deutschen Jugend (FDJ), den Veranstaltungshinweis las. „Am 19. Juli begehen unsere Freunde in Nicaragua den 9. Jahrestag der sandinistischen Revolution. Wir freuen uns, dass der US-amerikanische Sänger Bruce Springsteen sich bereit erklärt hat, an diesem Tag für die Jugend der DDR ein Konzert zu geben“ stand da im typischen Politphrasenstil der Zeitung. Der weltbekannte Rockstar Springsteen spielt zum ersten Mal im Arbeiter-und-Bauern-Staat? Was für eine Hammernachricht, die in der Einöde einer kleinen Kaserne nahe Bautzen einschlug!

Als Soldat der Nationalen Volksarmee (NVA) im alles andere als freiwilligen 18-monatigen Grundwehrdienst, den auch viele meiner Kameraden als Freiheitsentzug und eine Art Zwangsknast ansahen, war man für jede noch so kleine interessante Nachricht in der Presse dankbar. Zwar gab es schon 1987 in der DDR Auftritte von Weltmusikern– von Barclay James Harvest etwa oder von Bob Dylan im Treptower Park in Ostberlin. Im Juni 1988 kamen Joe Cocker und Bryan Adams zum sogenannten Rocksommer der FDJ nach Berlin-Weißensee und spielten vor fast 100.000 Menschen. Aber Springsteen war der Höhepunkt.

Jetzt gab es nur eines: es irgendwie zu schaffen, an diesem 19. Juli, einem Dienstag, einen verlängerten Kasernenausgang zu bekommen – von 16 Uhr bis um 6 Uhr am Morgen danach.

Der wurde zum Glück genehmigt, galt aber nur für Bautzen und das Umland. Egal – das Risiko, in Berlin von einer NVA-Streife oder einem Volkspolizisten erwischt zu werden, war ich bereit zu tragen. Schließlich wusste niemand, ob sich die Gelegenheit noch mal ergeben sollte, Springsteen in der DDR ein weiteres Mal zu erleben. Also raus aus der tristen Kaserne mit den grauen „Buckels und Tages-Silos“ – so nannten wir unser grenzdebiles militärisches Führungspersonal – und den Daumen in den Wind. Trampende Soldaten wurden in der DDR gern mitgenommen.

Chaos, Jeans, US-Flaggen

Vor dem Konzertgelände um die Radrennbahn in Weißensee herrschte Verkehrschaos. Jugendliche und Junggebliebene aus allen Teilen der DDR strömten auf die Wiese, viele in Jeansklamotten. Einige schwenkten selbst gemalte US-Fahnen, dazu gehörte eine Menge Mut. Die SED-Kulturfunktionäre hatten zähneknirschend kapiert, dass sie der Ostjugend diese einst als „dekadente Musik der Imperialisten“ verunglimpften Klänge und die Einflüsse westlicher Kulturen nicht weiter vorenthalten konnten. Die Sehnsucht, Topmusiker einmal live erleben zu können, die man sonst nur aus dem West-TV und gelegentlich dem DDR-Radio kannte, war in der nach außen abgeschotteten DDR riesig.

In einem Gebüsch zog ich NVA-Filzhose und -Hemd aus – darunter trug ich Zivilsachen – und stopfte sie samt Schildmütze in einen Dederon-Einkaufsbeutel. Die Uniform wäre gefährlicher gewesen bei einer Ausweiskontrolle, weil ich ja keine Reisegenehmigung für Berlin hatte. Die blank geputzten NVA-Schuhe schminkte ich mit Straßendreck ab.

Obwohl die FDJ einen Großteil der Karten vorab unter treuen Junggenossen absetzte, drängten auch viele echte Springsteen-Fans auf das Gelände. Wer keine Karte mehr ergatterte, ließ sich von den Einlasskräften der FDJ-Blauhemdtruppen und Vopos nicht wirklich aufhalten. Etliche, darunter auch ich, sprangen über die Zäune oder drückten zu Konzertbeginn die Ordner an die Seite. Um Schlimmeres zu verhindern, öffneten die Organisatoren einige Tore auch für die, die ohne Ticket davorstanden. Solche Szenen hatte es nie zuvor bei einem Musikkonzert in der DDR gegeben.

Während die SED-Zeitungen hinterher von 160.000 Zuschauern berichteten, waren es tatsächlich weit mehr als 200.000, darunter waren auch Westberliner. Es war das größte Rockkonzert, das je in der DDR stattgefunden hat.

Über der Bühne prangte ein riesiges „Tunnel of Love“-Plakat – der Titel des aktuellen Springsteen-Albums. Einige Fans waren auf Bäume oder Masten geklettert. Selbst außerhalb des Areals standen noch viele „Ohrenzeugen“. Von den hundert Konzerten dieser Tournee auf der ganzen Welt war dieses hier in Ostberlin auch für Springsteen das bis dato größte.

„Nice to be in East Berlin!“, begrüßte der „Boss“ die Menge. Schon beim ersten Lied, „Badlands“, war die Masse elektrisiert, reckte ihre Arme gen Himmel. Fast vier Stunden spielte Springsteen seine Welthits, von „The River“ über „The Promised Land“ bis „War“. Euphorie pur, als er den alles andere als patriotisch gemeinten Song „Born in the USA“ anstimmte und über Hunderttausend inbrünstig mitsangen – Stasi-Schlapphüte, SED-Funktionäre, Vopos und Vorzeige-FDJler natürlich ausgenommen. 1986 war das Album „Born in the USA“ in der DDR bei Amiga als Schallplatte und absolute „Bückware“ in den Handel gekommen – als Lizenzpressung der 1984 im Westen erschienenen LP.

Unerreichbar wie der Mond

Die Atmosphäre war einzigartig. Tausende tanzten und sangen begeistert mit, darunter auch mancher FDJler. Andere, Männer wie Frauen, mussten mit Kreislaufproblemen von Sanitätern versorgt werden. Die Lautsprecheranlage reichte kaum aus, um die gigantische Menschenmasse zu beschallen – anfängliche Akustikprobleme konnten die Tontechniker noch etwas minimieren.

Wohl kaum ein Musikfan, der dort war, wird dieses Konzert jemals vergessen. Springsteen verkörperte den Traum von Selbstbestimmung und -verwirklichung. Seine Vereinigten Staaten von Amerika und selbst Westberlin waren damals für die meisten DDR-Bürger so unerreichbar wie der Mond.

Doch dieses bedrückende Gefühl des Eingesperrtseins wurde nun überlagert von Springsteens kraftvollen Songs. Vom Freiheitsdrang, vom Impuls, etwas gegen die Ungerechtigkeiten in der Welt zu tun und sich nicht alles gefallen zu lassen.

Tosenden Jubel erhielt Springsteen, als er auf Deutsch eine Ansage von einem Zettel ablas: „Ich bin nicht für oder gegen eine Regierung. Ich bin gekommen, um Rock ’n’ Roll für euch zu spielen – in der Hoffnung, dass eines Tages alle Barrieren abgerissen werden!“

Unglaublich! Das sagte ausgerechnet der Ami Springsteen in der DDR. Einer, der ja auch einer von den „Klassenfeinden“ war, wie man uns immer im Politunterricht eintrichtern wollte.

Eigentlich hatten die SED-Funktionäre vor, Springsteens Auftritt als Beruhigungspille für die zunehmend frustrierte Jugend einzusetzen als verlogenen Beleg für Frieden, Weltoffenheit und den Kampf gegen den „parasitären Imperialismus“. Tatsächlich bewirkte das Konzert genau das Gegenteil: Die Sehnsucht nach Freiheit und der großen weiten Welt wurde noch viel größer.

Nach dem Ende des Konzerts dauerte es ewig, bis sich der Autostau auflöste. Wieder per Anhalter zurück nach Bautzen, traf ich mit einstündiger Verspätung am Morgen in der Kaserne ein. Die Standpauke des Offiziers vom Dienst konnte mich nicht erschüttern, denn meine letzten 150 Tage bei der NVA waren längst angebrochen. Und die positive Energie des Konzertes beflügelte mich, auch die letzten sinnlosen Monate dort noch zu überstehen.

Meinen Soldatenkameraden bin ich noch heute dankbar, dass mich keiner von ihnen verpfiffen hat. Denn sie wussten, dass ich in Berlin gewesen war. Beim Konzert von Bruce Springsteen.