BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Der Teufel hat den Schnaps gemacht

Im Osten wird noch immer gern und viel hochprozentiger Alkohol getrunken

Wenn die Ostler eins können, dann ist es saufen. Hochprozentiges, versteht sich. Das ist kein Klischee, sondern die Wahrheit. Ich war am Wochenende auf der Geburtstagsfeier meines Lieblingsonkels in einem Dorf in Sachsen-Anhalt und habe lange nicht mehr so gelallt.

Meine Verwandten in der Magdeburger Börde sind keine Trunkenbolde oder Wendeverlierer, die ihren Frust im Alkohol ertränken. Es sind studierte und kultivierte Menschen, damals und heute in verantwortungsvollen Positionen, die sich nichts vorzuwerfen haben. Es ist nur so, dass zu einem geselligen Beisammensein eine Batterie Schnapsflaschen gehört wie die Butter aufs Brot. Das war früher so und ist auch heute noch so. Einen Magdeburger „Halb und Halb“, ein 35-prozentiger Kräuterlikör, abzulehnen, kommt im Hause meines Onkels einem Familienverrat gleich. Und weil man doch zu selten versucht, auf einem Bein zu stehen, kann man ein zweites Glas nicht abschlagen. Danach laufen „Nordhäuser Doppelkorn“ und all die anderen Schnäpse von ganz alleine rein.

Wenn es in der DDR nichts gab, aber Schnaps gab es immer. Erst jetzt verstehe ich, warum damals keiner gesagt hat, er müsse zur Armee, wenn er den Dienst an der Waffe antrat, sondern „zur Fahne“. Dass viele DDR-Bürger Alkoholprobleme hatten, wurde lange unter den Teppich gekehrt. Als es nicht mehr vertuscht werden konnte, griffen die Genossen das Thema sogar in Filmen auf. Anfang der 80er-Jahre gab es einen „Polizeiruf 110“ mit dem Titel „Der Teufel hat den Schnaps gemacht“. Im Westen trällerte Udo Jürgens einige Jahre früher ganz unbekümmert ein Lied mit dem gleichen Titel – und dem dazugehörigen Refrain: „Der Teufel hat den Schnaps gemacht, um uns zu verderben.“

Im Osten ist man immer noch gerne verdorben. Dabei habe ich nichts unversucht gelassen, etwas Kultur in die hochprozentige Trinkkultur zu bringen. Ein halbes Jahr nach dem Mauerfall besuchte ich mit einem Freund, dessen französischer Vater in Süddeutschland einen Weinhandel betrieb, meine sachsen-anhaltische Verwandtschaft, um sie für weniger Hochprozentiges zu begeistern.

Mein Onkel stieg in den Keller hinab und präsentierte einen Wein, den er zu DDR-Zeiten angesetzt hatte. Er wollte wissen, was der Fachmann davon hielt. Neugierig öffnete der Experte den verstaubten Ballon, roch, probierte und schnalzte anerkennend mit der Zunge. „He, das ist Sherry! Ein Dry Sherry.“ Mein Onkel hatte keine Ahnung von Sherry. Erst recht nicht von Dry Sherry. Er konnte es nicht glauben, dass er einfach so zum Sherryproduzenten geworden war.

Ich setzte meine Mission fort. Als der Vater des Weinkenners wenige Monate später die neuen Bundesländer mit trockenen französischen Weinen beglücken wollte, begleitete ich ihn auf eine Gastronomiemesse nach Sachsen. Meine Warnungen, dass die Menschen dort auf süße Weine stehen, schlug er in den Wind. „Es ist alles eine Frage von die Kultur“, sagte der Franzose und lud zur Weinverkostung. Vor sich hatte er ein Dutzend trockener Weine und ein Dutzend trockener Kehlen. Skeptisch nippten die Sachsen an ihren Gläsern.

Ein Probetrinker verzog angewidert den Mund und sagte „Der is ja sauer!“ Beruhigend legte ich dem Franzosen die Hand auf die Schulter. Dann kam es ganz dicke. Der unzufriedene Sachse hatte ein Glas Zucker aufgetrieben und löffelte vor den Augen des entsetzten Franzosen Süßstoff in sein Glas. Er rührte ordentlich um, nahm einen großen Schluck und verkündete strahlend „Jetzt isser schön süße.“ Aus dem Weingeschäft wurde nichts.

Auf der Geburtstagsfeier bei meinem Onkel wurde diese und natürlich auch die Sherrygeschichte zum Besten gegeben. „Dry Sherry! Dry Sherry!“, rief mein Onkel immer wieder und sprach das „r“ wie ein Amerikaner aus. „Dabei hab ich den Ballon nur wegen der ganzen Aufregung um den Mauerfall vergessen.“ Ich bekam einen Schluckauf. „Dry Sherry!“, rief er wieder. „Zwei für euch und einen für mich!“ Bei so viel Ignoranz musste ich saufen. Schnaps natürlich. Was sonst.

Fotohinweis: BARBARA BOLLWAHN ROTKÄPPCHEN Fragen zum Sherry? kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann über LAUFEN