Umerziehungslager für Frauen in Libyen

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch prangert gefängnisähnliche Zustände an. Die offizielle Begründung lautet „moralisches Fehlverhalten“. Viele der Betroffenen sind Opfer von Vergewaltigungen

MADRID taz ■ Der Vorwurf wiegt schwer. „Die libysche Regierung hält Frauen und Mädchen in ‚sozialen Umerziehungslagern‘ fest“, heißt es in einem gestern veröffentlichten Bericht der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). Die Betroffenen seien „anfällig für moralisches Fehlverhalten“, laute die offizielle Begründung für diese Maßnahmen.

Nach HRW ist keine der rund 100 inhaftierten Frauen angeklagt oder rechtskräftig verurteilt. „Viele sind eingesperrt, weil sie vergewaltigt wurden und deshalb die Familienehre schädigen“, heißt es in dem Bericht. Dabei würden das Grundrecht auf Freiheit, die Menschenwürde, die Privatsphäre und die Rechtsstaatlichkeit verletzt, urteilt HRW. Die Lager seien „Straflager und keine Schutzlager“, wie die libysche Regierung behauptet, beschwert sich die HRW-Verantwortliche für den Nahen Osten und Nordafrika, Farida Deif. „Wie können sie als Schutz bezeichnet werden, wenn die meisten von uns interviewten Frauen und Mädchen angeben, fliehen zu wollen, sobald sich eine Möglichkeit bietet?“, fragt Deif.

Die Unterbringung erinnere sehr stark an ein Gefängnis. Die Frauen und Mädchen würden nachts in ihren Zimmern eingeschlossen und dürften tagsüber das Lager nicht verlassen. Die Frauen und Mädchen würden unter Zwang auf Jungfräulichkeit und ansteckende Krankheiten untersucht. „Manche Insassen sind erst 16 Jahre alt, aber ihnen wird kein Unterricht erteilt, mit Ausnahme von religiösen Unterweisungen einmal die Woche“, heißt es im 40-seitigen Bericht, in dem ausführlich aus den Interviews mit den Betroffenen zitiert wird.

Viele der Frauen wandten sich freiwillig aus Angst vor ihrer Familie an das Umerziehungslager. So gibt eine junge Frau an, im August 2004 „von einem Mann auf der Straße vergewaltigt“ worden zu sein. „Wenn mein Bruder mich gefunden hätte, hätte er mich umgebracht“, erklärt sie den in Libyen geltenden Ehrenkodex. Zwar sei die Familie benachrichtigt worden, aber sie habe sich geweigert, die Frau wieder aufzunehmen. Seither sitzt sie im Lager fest.

HRW beklagt, dass im libyschen Rechtssystem die Verteidigung von Frauen, die Opfer von Gewalt werden, nicht vorgesehen sei. „Wir kennen hier keine Gewalt gegen Frauen, wenn es sie gäbe, wüssten wir davon“, erklärte die sozialpolitische Sprecherin der Regierung in Tripolis gegenüber der HRW-Delegation, die im Januar das Land besuchte. Das Problem der Gewalt gegen Frauen sei dank der von Oberst Muammar al-Gaddafi angeführten Revolution von 1969 gelöst.

Laut HRW hat das libysche Regime mittlerweile eine Überprüfung der Vorwürfe angekündigt. Aisha al-Gaddafi, die Tochter des libyschen Revolutionsführers, habe die Einrichtung einer Untersuchungskommission versprochen. REINER WANDLER