: Klauen als Systemkritik
Umsonst-Bedürfnis: Die Zeitschrift „Fantômas“ diskutiert die traditionsreiche linke Praxis der Aneignung
Als die gefühlte wirtschaftliche Lage vor einigen Monaten auf einen Tiefpunkt zusteuerte, leuchtete noch fast jedem ein, dass nur die schwächelnde Binnennachfrage daran schuld sein könne. Herzlich gerne hätte man durch das hemmungslose Ausleben unerfüllter Konsumwünsche der Konjunktur auf die Sprünge geholfen. Doch auch ohne tatkräftige Hilfe der Konsumenten geht es inzwischen wieder bergauf. War die These etwa falsch oder hat sich bloß die Regierungs-PR verbessert?
In der Hamburger Zeitschrift Fantômas, dem „Magazin für linke Debatte und Praxis“, wird mit dem Thema „Aneignung“ nun ein alternatives Konzept zur Steuerung von Binnennachfrage diskutiert. Im engeren Sinne bedeutet Aneignung „die illegalisierte Überführung einer Ware von einem/r PrivateigentümerIn zu einem/r anderen“. Wie die 1993 aus Aktivisten der Hamburger Jobber- und Erwerbslosenläden hervorgegangene „Gruppe Blauer Montag“ laut ihrem Beitrag beobachtet haben will, geht es dabei bloß um eine alltägliche gesellschaftliche Praxis: „Schwarzfahren, Ladendiebstahl, Stromklau, Versicherungsbetrug und größere Bescheißereien gegenüber Sozial- und Arbeitsämtern“. Bekanntermaßen würden ja auch die Betreiber unterfinanzierter linker Projekte „in Firmen und Büros klauen wie die Raben, von der Büroklammer über das Kopierpapier bis zur Druckerpatrone“.
Neue Impulse erhält die traditionsreiche linke Praxis der Aneignung also gerade in Zeiten eines schwachen Staates – nämlich als eigenverantwortliche Alternative zu Straßendemos. Doch Steuerhinterziehung oder Korruption beweisen auch, dass der stille Klau eben kein Privileg der linken Unterschichten ist. Wie Mehltau liegt außerdem ein schrecklicher Verdacht auf der Debatte: Geht es auch bei den Linken nur um die verführerische Macht unerfüllter Konsumwünsche, also um „kleinbürgerlich-anarchistisches“ Habenwollen? Sind politische Umsonst-Kampagnen, die eine kostenlose Nutzung von Schwimmbädern oder öffentlichen Verkehrmitteln fordern, insgeheim doch dem Fetisch des Warencharakters erlegen?
Tatsächlich stehen für den Blauen Montag die jüngsten Umsonst-Kampagnen „im luftleeren politischen Raum“, denn sie stellten „weder das Institut des Privateigentums noch die Warenproduktion (und damit Ausbeutung) als solche grundsätzlich in Frage“. Wie wahr, stellt sich der Markt doch längst auf das Umsonst-Bedürfnis ein: Sind Billig-Textilien aus asiatischen Sweat-Shops nicht schon fast für umsonst zu haben? Verdienstvoll daher der Hinweis, dass die Zeitschrift Fantômas nicht für umsonst zu haben ist. Für den Erhalt des Blattes ersucht man die Leser um 25.000 Euro. Ein Überweisungsträger mit Steuerquittung ist beigelegt. JAN-HENDRIK WULF
Fantômas Nr. 8, 4,50 Euro