Klebrige Klage der Honigbienen

FESTIVAL Seit 1971 findet im italienischen Santarcangelo das Internationale Straßentheater-Festival statt. Auch in diesem Jahr traf sich dort die künstlerische Avantgarde, um auf Straßen und Theaterbühnen zu performen. Die Krise ging an ihr nicht spurlos vorüber

Befragt man die Künstler zur Krise, sagen sie: „Ach, die Krise! Die haben wir doch schon immer“

VON RENATE KLETT

Erste Folgen der Krise zeigen sich schon bei der Anreise; früher flog man nach Rimini, wurde dort abgeholt und war im Nu in Santarcangelo. Jetzt ist der Flughafen in Rimini geschlossen, also wird man in Bologna abgeholt, was länger, umständlicher und teurer fürs Festival ist. In dem schmucken Städtchen ist die Welt noch in Ordnung. Die Restaurants sind voll, am Samstagabend wimmelt die Piazza vor Menschen, und auch das internationale Theater-Festival ist gut besucht. Es musste Budgetkürzungen hinnehmen, aber seine Zukunft scheint gesichert.

Das „Santarcangelo Festival Internazionale del Teatro in Piazza“, eines der besten Festivals in Italien, findet seit 1971 statt; es hat sich zum jährlichen Treffpunkt der Avantgarde entwickelt, mit ständig wachsendem Programm und vielen Meetings, Diskussionen, Workshops. Gespielt wird in Theatern, Wohnungen, Fabrikanlagen und nachts bei freiem Eintritt auf der Piazza Ganganelli. So auch vergangenes Wochenende. Der ungewöhnlichste Spielort ist die Grotta Municipale: Ein unterirdischer Gang führt zu einem kalten, dunklen, kreisrunden Raum mit romanischen Säulen. Man ist in der Stadt und doch in einer anderen Welt. In Gertjan van Gennips „Honey Queen“ kauert ein Mann mit zerknitterter Pappkrone auf dem Sofa, den nackten Körper grotesk mit Honig beschmiert. In prallen Versen preist er die wohltuende Wirkung von Süßigkeiten, wird selbst zur klebrigen Klage um die Vernichtung der Bienen. Ein Bild, dass man so schnell nicht wieder vergisst.

Bei dem Choreografen François Chaignaud wird die Grotte zur Kultstätte. Das Publikum sitzt entlang der Wände, es ist stockdunkel, von draußen hört man Trommelwirbel. Dann erscheint der Gott in monumentalem Gewand. Er singt in fremden Sprachen, fremden Tönen, dreht sich im Lichtschimmer und vollzieht ein rätselhaftes Ritual aus Gesten und Tonfolgen. Die Grotte wird zum magischen Ort, unheimlich, man friert, schwitzt, wird von einer Feder gestreift oder von Atem. Chaignaud vermischt Elemente der südindischen Theyyam-Tänze mit ukrainischen, sephardischen und philippinischen Gesängen. Daraus entsteht nicht der übliche Weltkunstbrei, sondern eine bizarr-mythische Zeremonie aus bombastischem Kostüm (Romain Brau), graziösen Bewegungen und der Weihe des Ortes.

Der Sog der Geisterwelt

Danach wirken Virgilio Sienis Kindertanzstücke als gesundes Antidot zum Sog der Geisterwelt. Alles hier ist licht und hell und freundlich. Bei „In ascolto“ tanzen zwei Mädchen zum Rhythmus ihres Atems, bei „Racconto“ bewegt ein kleiner Junge seinen Körper zu den Klängen eines Cellos und erklärt dies. Die Kinder werden ernst genommen, die Choreografie ist anspruchsvoll statt „kindgerecht“, und wird gut und voll Begeisterung getanzt. Die beiden Stücke sind naturgemäß kurz, aber auch sonst dauern viele Vorstellungen kaum länger als 30 Minuten – vielleicht weil das Geld für mehr nicht reichte? Wenn ich die Künstler zur Krise befrage, reagieren sie jedenfalls alle gleich: „Ach, die Krise! Die haben wir doch schon immer, nur wurde früher nicht drüber geredet.“ Und Regisseurin Nadia Ranocchi lacht. „In der Krise muss man tanzen, um zu widerstehen!“, sagt sie. Die Zapruder Filmmakers Group, zu der sie gehört, zeigt denn auch einen kurzen Dokumentarfilm über den lokalen Tanzmarathon: „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff“. Von oben geschossen und ohne Musikbegleitung, wirken die Paare wie verzweifelt zappelnde Fische auf dem Trockenen. Und man denkt unwillkürlich an die amerikanischen Dauertanzwettkämpfe zur Zeit der Großen Depression.

„Wenn in Italien nicht jahrzehntelang diese unmäßige Korruption geherrscht hätte, dann gäbe es jetzt auch keine Krise“, ist Maddalena Parise überzeugt. Ihre Kompanie hat sich mit drei weiteren zusammengetan, um ein großes Projekt zu stemmen. „Art you lost?“ ist eine szenische Installation aus den Erinnerungen, Antworten und mitgebrachten Lieblingsobjekten des Publikums. „Der Drang, sich zu vergewissern, warum und ob man etwas macht, auch die Bereitschaft, Verantwortung dafür zu übernehmen, werden durch die Krise verstärkt oder überhaupt erst hervorgebracht.“ Das sei doch mal positiv, wird gesagt. Aber la crisi habe eben auch dazu geführt, dass sich die Gewichte verschieben: „Jeder steckt heute mehr Zeit und Energie in die ökonomischen Angelegenheiten als in die kreativen, und das kann doch nicht guttun.“

Italien hat sich verändert, da sind sich alle einig. Vielleicht liegt es ja an diesem neuen, weit verbreiteten Gemisch aus Angst und Unsicherheit, dass so viele der Künstler auf Publikumsbeteiligung setzen. Als wollten sie trösten, umarmen, Gemeinschaft stiften. Fragt sich nur, ob das die angemessene Form ist, dem, was sie Verdummung und Ruhigstellung nennen – einer spricht gar von „psychologischem Genozid“ – Paroli zu bieten. Zwar wird hier niemand auf die Bühne gezerrt, wie es bei uns oft der Fall ist, aber andauernd muss man Fragen beantworten, abstimmen, Zettel ausfüllen und verstecken. Damit man sich ernst genommen fühlt und wichtig, der Narzissmus gestreichelt und die Wahrnehmung benebelt wird statt provoziert?

Guter Interaktionskitsch

Von dieser Art von Interaktionskitsch ist selten etwas zu erwarten. Aber plötzlich gibt es eine Aufführung, die alles das macht und trotzdem spannend ist: Kate McIntoshs „All Ears“. Da sind die Fragen originell (und sie stellt sich auch selber welche), wird Fingerschnippen und Füßescharren zum heftigen Sommerregen, durch Strippenziehen das Bühnenbild verändert und die Publikumsbeteiligung zum Soziogramm, mit weißer Farbe auf den Boden gemalt. Auch McIntoshs Installation „Worktable“ ist ein spielerisches Diagramm von Verhaltensweisen. Drei Räume, die man einzeln betritt: im ersten sucht man sich ein Objekt aus, im zweiten liegen allerlei Werkzeuge bereit, um es zu zerstören, im dritten flickt man ein von jemand anderem zerstörtes Objekt wieder zusammen. Wie da Männer Ziegelsteine zerkloppen und Frauen Äpfel zerschneiden, hinterher die Männer bizarre Formen basteln, während die Frauen alles ordentlich reparieren (Ausnahmen bestätigen die Regel) – das ist wie ein Hexenritt durch die Gender Studies.

Es gibt sogar „richtiges Theater“ beim Festival: „Poco lontano da qui“, ein Projekt der Schauspielerinnen Chiara Guidi und Ermanna Montanari, das aus der puren Lust entstanden ist, miteinander zu arbeiten. Zwei Schwergewichte der italienischen Szene, die eine von der Societas Raffaello Sanzio in Cesena, die andere vom Teatro delle Albe in Ravenna. Unterschiedlicher kann ein Bühnencredo kaum sein, aber gerade das hat sie wohl gereizt. Herausgekommen ist ein Abend über Theaterformen und -methoden, in anspruchsvoller Schwarzweißästhetik. Rosa Luxemburgs Brief über einen geschundenen Büffel, den sie voll Mitgefühl im Gefängnishof beobachtete und die selbstgerecht-hämische Antwort einer anonymen Leserbriefschreiberin darauf werden zur Kunstchiffre für einander ausschließende Lebensweisen. Die Frage, wie zu leben sei, die Festivaldirektorin Silvia Bottiroli dem diesjährigen Treffen als Motto gesetzt hat, wird in keiner Aufführung so abstrakt gestellt und so unumwunden beantwortet wie hier. Vielleicht brauchen wir ja solche Umwege, um klarer zu sehen, was „nicht weit von hier“ ist.

Und dann kommt er doch noch, der klassische Krisensatz. Am letzten Tag, beim Frühstück im Hotel, sagt ein freundlicher älterer Herr laut und vernehmlich: „Wenn Mussolini nur für sechs Monate zurückkäme – er würde Ordnung schaffen.“ Einige Gäste nicken, andere überhören es. Protestieren tut niemand.