Die Erlösung bleibt aus

Schwärzer, orientalischer, hysterischer: Der Choreograf Alain Platel hat in „vespero“ ein Stück Monteverdi gründlich überarbeitet – und den Verlust des Glaubens in pathologische Bilder übersetzt

Ein heftiges Reiben, Hecheln und Schütteln setzt ein, ein Wettbewerb in Einsamkeit, und keinem gelingt es, loszulassen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Schreck, was ist das? Warum zieht der junge Mann, kaum dass Maribeth Diggle mit der Sopranstimme eines Knaben Maria zu loben anhebt, seine Hosen aus? Kommt an die Rampe, zeigt den Stinkefinger und beginnt mit eklig strammen Muskeln, hyperaktiv und fordernd Stress zu machen. Der, denkt man sich, hat doch bestimmt noch nie nach Erlösung gesucht, der weiß doch gar nicht, was das ist, spirituelles Verlangen. Was hat er in der Marienvesper zu suchen?

Mit der Musik stimmt während dieses Auftritts von Ross McCormand auch etwas nicht. Sie rasselt in den Ohren, wo man noch Erhebung erwartet. Die Spur des Sakralen transformiert sich geschwinde. Als hätte eine Karnevalskapelle den Weg einer Prozession gekreuzt. Ein choreografisches Stück von Alain Platel zur Marienvesper von Monteverdi, so hat man das Gastspiel in der Berliner Staatsoper abgespeichert. Ist Monteverdi auf den Spuren des Christentums in den arabischen Raum gereist? Nein, man begreift es bald: Die Musiker auf der Bühne, Spezialisten für Musik des Barock, Jazzer und aus einem flandrischen Zigeunerensemble stammend, haben über Monteverdi lange improvisiert und musikalische Motive verschmolzen, die mindestens einmal rund um das Mittelmeer gereist sind. Später kann man im Programmheft lesen, dass Fabrizio Cassol, der musikalische Leiter, die „himmlische Reinheit“ in der Musik Monteverdis überwinden wollte, um sie „orientalischer, jüdischer, schwärzer klingen“ zu lassen. Das ist gelungen.

Ein steiler Berg bildet das Bühnenbild. Klettert die Prozession der elf Tänzer den Berg hoch, denkt man an einen Kalvarienberg aus hartem Stein. Zerfällt die Aktion in ein unkoordiniertes Kaleidoskop von Anstrengungen, die nicht zusammenkommen können, dann dient der Berg als Kletterwand für ein zielloses Rauf und Runter. Ergreift einen das Mitleid mit den hysterisch geschüttelten und gründlich aus dem Lot geratenen Körpern auf der Bühne, dann sieht auch der Berg aus wie eine Halde aus Müll. Am Ende leuchtet er von innen, ein tröstendes Bild, vor dem sich aber ein trostloses Geschehen abspielt: ein heftiges Reiben und Masturbieren des ganzen Ensembles, ein Hecheln und Schütteln, ein Wettbewerb in Einsamkeit, eine krampfhafte Anstrengung, aus der Spannung zu kommen, sich zu verlieren, loszulassen.

Das Stück, das in Berlin noch „vespero“ heißt, wird unter dem Titel „V S P R S*“ weitertouren durch Europa, wie schon die vorherigen Produktionen des flämischen Choreografen Alain Platel, „Wolf“ und „Iets op Bach“. Im Programmheft stellt er jedes Ensemblemitglied mit der kurzen Geschichte ihrer Begegnung vor, die oft jahrelang zurückliegt, als wäre mit der Arbeit über Monteverdi eine Saat endlich aufgegangen. Doch stört im Verlauf der Aufführung etwas das Nacheinander der Solos und die Zersplitterung in einzelne Studien. Ihre Universen berühren sich nicht; die Kontexte, die Tänzer und Performer anreißen, driften nebeneinanderher. Da ist Rosalba Torres Guerrero, die am Anfang alle Götter anruft und alle Ikonen der Moderne, von Bhagwan und Jesus bis zu King Kong und Derrida. Da ist die kleine Artistin Iona Keweny, die auf den Händen gehend ihre Beine fürchterlich verdreht, die Konturen des Menschseins verliert, sehr artistisch und schmerzhaft anzusehen. Da sind Hyo-Seung Ye und Quan Bui Ngoc, die ein Duett hervorragender Sprünge mit Gesten des Autismus und anderer Behinderungen verzerren.

Überhaupt, die Krankheitsbilder, das ständige Kippen ins Pathologische: Platel hat seinen Tänzern historische Studien von Hysterikerinnen gezeigt. Man ahnt die Intention, das Rühren an die Wurzeln von mystischer Erfahrung, an die Geschichte der Aufspaltung in Bilder des Gesunden und Kranken, die Platel nicht zuletzt wegen seiner Herkunft aus der Therapie und der Arbeit mit Behinderten vertraut ist. Es ist sicher auch richtig, dass er dies jetzt nur als ein fruchtloses, kraftkostendes Mühen auf der Suche nach einem Weg auf eine andere Seite des Seins darstellt, den Zugang aber nicht findet und damit offen lässt, ob es die andere Seite überhaupt gibt. Trotzdem wirken die gehäuften Bilder der um ihr Einssein mit sich selbst gebrachten Körper auch wie ein überzogener Tick und überreiztes Schema.

Deutliche Spuren haben in „vespero“ nicht zuletzt Platels Reisen nach Palästina und die Arbeit mit Tänzern in Ramallah hinterlassen. Nicht nur in den arabischen Musikanleihen; auch in den Bildern blitzt in manchen Momenten das Gefühl eines enorm belasteten Alltags auf. Wie man Verängstigte beruhigt, wie man sich um Verletzte kümmert, auch das ist Teil der Bilder, in denen sich die Tänzer einander zuwenden, stützen, aufheben, forttragen. Als ob sich die Erfahrung eines Landes im Kriegszustand einfach in alles drängen würde und in jede Bewegung die Erinnerung an eine andere legt. Da zeigt sich Platels Stärke wieder mehr als in der Beschreibung des verlorenen Glaubens.