„Der größte Hirn-Stimulus von allen“

MUSIK UND WISSENSCHAFT Neuropsychologin Daniela Sammler wird in Hitzacker erklären, warum wohl alle Menschen dieselben Tonfolgen als harmonisch empfinden und warum wir so schnell und effektiv in Tagträume oder Flashbacks geraten

■ 34, Neuropsychologin, forscht am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften Leipzig über neuronale Grundlagen von Intonation in Sprache.

taz: Frau Sammler, was passiert beim Musikhören im Gehirn?

Daniela Sammler: In diesen Momenten ist das gesamte Gehirn so aktiv wie bei keinem anderen Stimulus. Konkret trifft die Musik zuerst in Form von Schallwellen aufs Ohr. Dann wird sie in einem komplizierten Prozess in eine neuronale Antwort in der Hirnrinde übersetzt. Dort beginnt ein sehr verschachtelter Weg, der bei jedem unterschiedlich ist.

Gibt es kein auf Musik spezialisiertes Hirn-Areal?

Nein. Musik aktiviert etliche Hirn-Areale, die eigentlich für andere Dinge zuständig sind. Da wäre einerseits das Hören, dann die Motorik – wenn man zum Beispiel mit dem Fuß mitwippt. Und natürlich die emotionalen Zentren – sowie jene, die für das Abspeichern von Erinnerungen zuständig sind. Musik aktiviert also letztlich das komplette Gehirn.

Und wovon hängt ab, ob wir Musik als harmonisch oder dissonant empfinden?

Das scheint biologisch festzuliegen: Harmonische und dissonante Klänge erzeugen unterschiedliche Schwingungen im Ohr. Die Dissonanz erzeugt zum Beispiel durch eine ungerade Frequenz eine Reibung in der Membran des Ohrs. Das kann man messen.

Empfinden das alle Menschen gleich?

Vermutlich. Untersuchungen bei einem Stamm in Kamerun haben jedenfalls ergeben, dass sie dieselben Tonabstände als angenehm und unangenehm empfinden wie die Europäer.

Aber die Empfindung ist nicht dasselbe wie die Messung. Wer Zwölf-Ton-Musik schätzt, wird die Dissonanz bemerken, aber nicht unangenehm finden.

Das stimmt, letztgültige Beweiskraft hat das Kamerun-Experiment noch nicht. Trotzdem legt es die Vermutung nahe, dass die Definition eines Klangs als harmonisch oder disharmonisch universell ist. Wie man ihn dann bewertet, hängt natürlich von der jeweiligen Hörerfahrung ab.

Sie erforschen auch, wie das Gehirn die Intonation von Sprache deutet. Gibt es Parallelen zwischen Sprach- und Musikverarbeitung im Gehirn?

Ja, große. Denn in beiden Fällen gibt es eine Grammatik, die wir – kulturspezifisch natürlich – früh lernen. In der Sprache ist ja geregelt, wie die Satzteile aufeinander folgen. In der Musik die Abfolge der Töne und Harmonien – das ist eine Art musikalischer Grammatik. Wenn man diese Regeln in der Musik verletzt, werden erstaunlicherweise ähnliche Hirn-Areale aktiviert wie bei einem grammatikalischen Fehler im Satz.

Sie werden in Hitzacker auch über Träume sprechen. Was passiert dabei im Gehirn?

Der Traum im Schlaf ist weitgehend unverstanden, weil man die Versuchsperson nicht fragen kann, wann sie träumt und ob die Hirn-Aktivität, die wir messen, nicht andere Ursachen hat. Das ist ein methodisches Problem. Ich werde mich deshalb auf den Tagtraum konzentrieren. Da kann man genauer feststellen, was im Hirn passiert.

Nämlich?

Es gibt für Tagträume – aber auch für ihr negatives Gegenstück, das Flashback, drei Auslöser: Emotion, Erinnerung, Assoziation. Am wichtigsten ist dabei die Emotion. Denn je emotionaler eine Erfahrung ist, desto tiefer wird sie im Hirn verankert. Höre ich also zum Beispiel ein Musikstück aus einem meiner glücklichen Jugendjahre, bin ich in Sekundenbruchteilen wieder dort.

Was passiert genau?

Vermutlich eine Art Imagery: eine durch Ton, Bild oder auch nur ein durch die Worte „9/11“ ausgelöste Vorstellung einer Situation. Wenn die vor dem inneren Auge auftaucht, werden dieselben Hirn-Areale aktiv, als wenn man die Situation real durchleben würde. Und wenn man Stimmen von Leuten aus der Vergangenheit hört, hat man die entsprechenden auditorischen Aktivierungen.  INTERVIEW: PS

Träume und Gefühle aus Sicht der Neuropsychologie. Vortrag (mit Musik) von Daniela Sammler: 31. Juli, 14.30 Uhr, St.-Johannis-Kirche Hitzacker