: „Dass ich jetzt Deutscher bin, hat meine Mutter sehr locker genommen“
DER MARKETINGEXPERTE Früher half Burhan Gözüakça seinem Vater, schwäbischen Weichkäse in Berlin zu verkaufen – heute macht er Ethnomarketing. Seiner erfolgreichen Broschüre für migrantische Erstwähler hat das Bundesinnenministerium den Garaus gemacht. Um im September erstmals selbst wählen zu dürfen, musste Gözüakça erst noch zum Militärdienst in die Türkei
■ Der Mensch: Burhan Gözüakça wird 1972 im osttürkischen Kahramanmaras geboren. Als er sechs Monate alt ist, ziehen seine Eltern mit ihm nach Offenburg. Als Drittklässler kehrt er in die Türkei zurück und verbringt fünf Jahre bei den Großeltern. 1986 geht es dann endgültig nach Deutschland: nach Berlin, in den Wedding, wo die Eltern inzwischen leben. In deren Lebensmittelunternehmen Yasar arbeitet er bis 1996. Kurz nach der Firmenpleite stirbt sein Vater. An ihn erinnert Gözüakça in einer Rede, die er 2011 im Rahmen der Feierlichkeiten zu „50 Jahre Anwerbevertrag“ im Roten Rathaus hält. Gözüakça lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Reinickendorf.
■ Der Werber: 1998 gründet Gözüakça mit einem Partner die Werbeagentur BEYS Marketing & Media und macht seitdem für Banken, Versicherungen und andere Unternehmen Marketing für migrantische Zielgruppen. 2009 entwickelt die Agentur zur Bundestagswahl die deutsch-türkische Infobroschüre „Seçim Senin“ („Du hast die Wahl“). Zur Abgeordnetenhauswahl 2011 erscheint die Broschüre auch auf Arabisch, Polnisch und Russisch.
■ Der Deutsche: Nach seiner Einbürgerung im Jahr 2012 wird Burhan Gözüakça am 22. September zum ersten Mal an einer Bundestagswahl teilnehmen.
INTERVIEW SEBASTIAN PUSCHNER FOTOS MIGUEL LOPES
taz: Herr Gözüakça, vor diesem Gespräch habe ich lange geübt, Ihren Nachnamen korrekt auszusprechen.
Burhan Gözüakça: Und es ist Ihnen gelungen! Aber ich lege nicht so großen Wert darauf. Die Haltung gegenüber einem Menschen hängt nicht davon ab, wie man den Namen ausspricht. Unseren Kunden mache ich es einfacher, indem ich nur den Vornamen benutze.
Sie verkaufen Ihren Kunden Ethnomarketing. Was ist das?
Eigentlich etwas ganz Unspektakuläres: Sie wollen ein Produkt verkaufen, wir suchen die passende Zielgruppe raus. Wenn es Migranten sind, ist das Ganze plötzlich Ethnomarketing.
Muss man denn unbedingt Werbung machen, die auf Migranten zugeschnitten ist?
Unbedingt. Der größte Fehler ist, nichts zu machen. Wir wollen Migranten das Gefühl geben, dass ihre Belange und ihre Bedürfnisse hier berücksichtigt werden, dass sie als Zielgruppe und Konsumenten wahrgenommen werden. Da hinken wir in Deutschland gewaltig der Zeit hinterher.
Inwiefern?
Es gibt da eine gewisse Überheblichkeit. Der Geschäftsführer einer großen Wohnungsgesellschaft hat mir mal erzählt, die Hälfte seiner Mieter seien Türken, aber selbst habe er noch nie einen Türken kennengelernt. Das kann doch nicht sein! Viele sagen: Wir brauchen nichts für Migranten machen, wir erreichen die auch mit dem, was wir sonst so machen.
Für Sie ist das ein Trugschluss.
Sehen Sie sich doch die demografische Entwicklung in Deutschland an! Die Zielgruppe der Migranten ist überproportional jung und, das Vorurteil stimmt, konsumfreudig. Aber keiner muss fragen, warum Türken oder Russen hier Medien aus ihren Herkunftsländern konsumieren.
Warum?
Weil wir denen, abgesehen von Nischenproduktionen, nichts anbieten! Deutsche Zeitungen und Fernsehsender produzieren ihre Inhalte für die deutsche Mehrheitsgesellschaft, Migranten kommen nur als Randerscheinung vor, als Darsteller für die deutsche Zielgruppe. Wenn ich Migranten nichts biete, kann ich nicht erwarten, dass sie Inhalte konsumieren, die sie nicht interessieren. Oder deutsche Discounter: Die fangen jetzt erst an, ins Sortiment aufzunehmen, was für die türkische Küche wichtig ist: bestimmte Reissorten, die Linsen, die Oliven, den Käse, gewisse Wurstwaren.
Wie konsumieren Sie denn? Sind Sie selbst ein Adressat von Ethnomarketing?
Ich nicht, aber meine Frau und viele andere Menschen in meinem Umfeld. Gestandene Männer setzen sich jeden Dienstag hin und sehen die eine türkische Serie und am Mittwoch dann die andere! Ich selbst bin eher Fan von US-Serien. Aber Studien zeigen, dass siebzig Prozent der Deutschtürken türkische Medien konsumieren: Fernsehen, Radio, Musik, komplett auf Türkisch, obwohl sie in der Mehrheit Deutsch können, sogar sehr gut.
Warum ist das so?
Unterhaltung hat viel mit Emotionalität zu tun. Liebesschmerz oder Verrat – das sind spannende Themen, die in der türkischen Kultur noch anders gelagert sind als in der deutschen. Meine in Berlin geborene Frau und ihre in der Türkei geborene Mutter finden diese Serien gleichermaßen klasse und auch Jugendliche haben einen starken Drang nach türkischem Content. In Berlin gibt es viele türkische Veranstaltungen, Live-Konzerte, DJ-Sets, die sind brechend voll. Die heutige Jugend hat erstaunlicherweise noch sehr viel emotionales Türkisches in sich und sucht nach diesen Signalen: Musik, Unterhaltung, auch über die Sprache. Viele Deutsche betrachten das als integrationshemmend, aber das ist Quatsch. Oft nehmen diese Jugendlichen ja noch ganz andere Unterhaltungsformate mit.
Welche Musik haben Sie denn als Jugendlicher gehört?
Bob Marley!
Wie das?
Ich weiß nicht, es war eine andere Zeit, Mitte der 80er, alle waren so ein bisschen möchtegernlinks. Im Grunde habe ich das alles noch nicht so verstanden, aber ich habe mich in dieser Musik wohlgefühlt. Und zugleich türkische Musik konsumiert.
Sie sind in Deutschland und in der Türkei groß geworden.
Ja, meine Eltern hatten sich bei der Arbeit in einer großen Textilfabrik in Kahramanmaraş kennengelernt, mein Vater suchte irgendwann eine neue Perspektive und ist ausgewandert. Ich war bis zur dritten Klasse in Baden-Württemberg, dann in der Türkei und erst ab der Neunten wieder in Berlin. Zwischen 9 und 14 habe ich bei meinen Großeltern und meinem Onkel in Kahramanmaraş gelebt und war nur in den Sommerferien in Deutschland.
Wie war diese Zeit?
Ich war gut aufgehoben in der Türkei. Aber natürlich ist eine Trennung in diesem Alter hart, ich könnte mir nicht vorstellen, das jetzt mit meiner Tochter oder meinem Sohn zu machen. Ich selbst habe keine großen negativen Erinnerungen daran, wahrscheinlich habe ich die verdrängt. Aber für meine Eltern muss es schlimm gewesen sein.
Haben Sie mit denen später darüber gesprochen?
Mein Vater lebt nicht mehr. Für meine Mutter war es eine sehr schwierige Zeit, das weiß ich, das höre ich immer wieder. Wir scherzen darüber, ich sage: Rabenmutter, du hast mich abgeschoben. Aber ich weiß ja, wie es war. Meine Eltern haben gesagt: Wir konzentrieren uns jetzt zu zweit, wir arbeiten und schaffen dann mehr. Mein Vater hat ohnehin gearbeitet wie ein Tier, in einer Spinnerei und mehreren Nebenjobs. Er hatte einen Transporter gekauft, um das ganze Wochenende Fahrdienste zum Flughafen zu machen. Außerdem meinten meine Eltern, ich sei in der Türkei besser untergebracht.
Warum?
Wir lebten in Offenburg in einem schwierigen Viertel. Rund um die Spinnerei lagen diese Wohneinheiten wie Kasernen. Zwar hat mein Vater dafür gesorgt, dass wir nach zwei, drei Jahren raus aus diesem Block sind, aber die neue Wohnung lag immer noch unmittelbar an diesem Viertel. Da gab es Jugendarbeitslosigkeit, Drogen, keine Förderung. Wenn einer erst mal kriminell geworden war, dann ließ in so einer kleinen Stadt die Ächtung der ganzen Familie nicht lange auf sich warten.
Ihre Eltern haben Offenburg irgendwann verlassen.
Ja, beide arbeiteten dann für einen Nähmaschinenhersteller, waren ständig auf Achse: Er hat Reparaturen durchgeführt, sie hat Kurse gegeben. Dann bekam mein Vater ein Angebot aus dem Nähmaschinenwerk in Berlin. Doch als sie hierhergezogen waren, hieß es: Einstellungsstopp, tut uns leid. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit hat mein Vater eine Käserei in einer Kleinstadt bei Stuttgart entdeckt.
Eine Käserei?
Die produzierten einen ganz besonderen Weichkäse, es gab in Berlin preislich und qualitativ nichts Vergleichbares. Die 200 Mark für den ersten Einkauf hat meine Mutter von den Nachbarn geliehen. Jahrelang hat mein Vater den Käse nach Berlin gekarrt und an die Händler auf den Wochenmärkten verkauft. Wenn Sie heute am Maybachufer die ältere Generation der Käseverkäufer nach ihm fragen, werden Sie tolle Geschichten hören.
Sie sind in den elterlichen Betrieb eingestiegen. Wieso verkaufen Sie heute keinen Käse?
Die Käserei im Süden produzierte auf einmal für unseren Hauptkonkurrenten, das zwang uns, eine eigene Produktion in Mecklenburg-Vorpommern zu starten. Die hat uns dann das Genick gebrochen und wir haben verkauft. Mein Vater starb kurz darauf an Leukämie, mit 49 Jahren.
Was denken Sie heute über ihn?
Er hat sein Leben lang hart gearbeitet und darunter gelitten, dass das Geschäft nicht lief, wie er es sich vorgestellt hatte. Ich hätte so gern mit ihm all die Situationen mit meinen Kindern geteilt, aber soll ich ihm einen Vorwurf machen? Meine Lehre habe ich gezogen: Ich tue alles, dass es unserer Agentur heute gut geht, aber ich bin Angestellter, nicht Teilhaber, ich habe eine Abneigung gegenüber der Selbstständigkeit. Ich habe gesehen, wie es meinen Vater getrieben hat.
Heute stellen Sie also Werbung her. Etwa für eine hohe Wahlbeteiligung von Migranten.
Ja, zu den Wahlen 2009 und 2011 haben wir mehrsprachige Wahlfibeln herausgebracht, in denen wir Grundsätzliches erklärt haben: Was ist Demokratie? Wie funktioniert das Wahlsystem? Was sind Erst- und Zweitstimme? Eigentlich banal, aber die Hefte wurden uns aus den Händen gerissen, von Deutschen wie Migranten. Wir mussten jeweils kurz nach Erscheinen nachdrucken.
Und dieses Jahr?
Dieses Jahr wird das nicht aufgelegt. Das Innenministerium möchte es nicht, die Bundeszentrale für politische Bildung hat es nicht budgetiert bekommen.
Warum nicht?
Ich wage da keine These. Aber die Bundesregierung hat auf parlamentarische Anfragen geantwortet, dass es kein Material für Migranten gibt und sie das auch nicht für notwendig erachtet. Dabei gibt es Tausende Einbürgerungen jedes Jahr, tausende Neuwähler. Es ist ernüchternd.
Überlegen Sie in solchen Momenten, selbst in die Politik zu gehen, um etwas zu ändern?
Nein, daran habe ich kein Interesse. Bis vor Kurzem hätte das auch keinen Sinn gemacht, weil ich noch gar nicht Deutscher war. Ich bin erst seit letztem Jahr eingebürgert.
Gehen Sie dann im September wählen?
Mit Sicherheit. Ich bin ja nicht unpolitisch, ich ziehe über Merkel und die CDU genauso her wie über die SPD oder die Linken. Die SPD könnte viel mehr für die Migranten tun, weil sie dort große Chancen hätte. Bei der CDU dominiert das Vorurteil, die Migranten würden sie eh nicht wählen. Dabei sind viele Migranten sehr konservativ. Viele Punkte aus der Agenda der CDU oder sogar der CSU sind durchaus türkentauglich, aber die vergrätzen sie lieber mit ihren absurden Vorstellungen, wie Migranten sich hier zu geben haben.
Warum wollten Sie die deutsche Staatsbürgerschaft?
Ein bisschen, um den Militärdienst nicht machen zu müssen. Aber auch, weil es mich genervt hat, mehrmals im Jahr diese Visa-Problematik zu durchlaufen. Als Türke braucht man für viele Länder Visa, und ich muss zum Beispiel oft geschäftlich nach England. Da ist solche Willkür im Spiel, dass ich irgendwann gesagt habe: Scheiße aber auch, vielleicht macht es doch Sinn, über eine Einbürgerung nachzudenken. Die Prozedur erschien mir vorher zu kompliziert, aber so schlimm war es gar nicht.
Sie durften die türkische Staatsbürgerschaft nicht behalten.
Nein. Ich musste sogar, bevor ich sie abgeben durfte, doch noch zum türkischen Militärdienst.
Nein!
Doch, drei Wochen lang, letztes Jahr. Rein in die Kaserne und parieren. 5.000 Soldaten, alle aus dem Ausland. Wir waren die letzte Einheit, die das machen musste, inzwischen kann man sich mit 10.000 Euro ganz freikaufen.
Hätten Sie nicht noch warten können? Oder wollten Sie das unbedingt machen?
Ich hatte es immer vor mir hergeschoben und am Ende zu knapp kalkuliert. Ich hatte zu spät von der Änderung der Statuten erfahren. Wenn ich mich noch mal entscheiden müsste, würde ich sogar einen Kredit für die 10.000 Euro Ablöse aufnehmen. Es war schon schlimm.
Drei Wochen Drill?
Ich verstehe nicht, wie die das geschafft haben, 5.000 Mann permanent so beschäftigt zu halten. Aufstehen um 5.30 Uhr, laufen, Waffentraining, Paraden abhalten, Areal säubern, bis wir alle um 21, 22 Uhr völlig kaputt ins Bett fielen. Tagsüber gab es keine freie Sekunde. Wir mussten unsere Smartphones abgeben, aber ich habe ein einfaches Handy mit reingeschmuggelt, für Notfälle und um meine Familie anrufen zu können. Aber ich hatte praktisch keine Zeit dafür.
Was hält eigentlich Ihre Mutter davon, dass Sie jetzt deutscher Staatsbürger sind?
Die würde diese Diskussion nicht verstehen. Dieses Stück Papier ist bei uns so nachrangig, das kann man sich gar nicht vorstellen! Meine Mutter käme nie auf die Idee, mich für weniger türkisch zu halten, weil ich einen deutschen Pass habe. Sie hat das alles sehr locker genommen, auch als sie in der Türkei mal zur Meldestelle musste, wo meine Cousine arbeitet. Die hat ihr gesagt: Guck mal, dein einer Sohn ist jetzt Deutscher!
Sehen Sie das auch so locker?
Ich finde die Diskussion darüber, wo man hingehört und was der Pass darüber aussagt, absurd.
Wo gehören Sie hin?
Zu meiner Familie, zu meinem großartigen Umfeld, auf das ich mich immer verlassen kann. Es ist da und ich weiß, dass wenn wir Geburtstag feiern, dreißig Leute kommen. Es geht gar nicht anders, wir haben letztes Mal überlegt, ob wir jemanden ausladen können, weil es ziemlich eng wurde. Aber das geht nicht, deswegen haben wir ja ein riesiges Wohnzimmer mit fünfzig Quadratmetern: nur um regelmäßig die Familie einladen zu können.
Vor zwei Jahren haben Sie im Rahmen einer Podiumsdiskussion gesagt, Sie seien noch nie in einem deutschen Wohnzimmer gewesen.
Das war aber keine Beschwerde, nur eine Feststellung. Das Wohnzimmer eines Türken steht immer allen offen. Das Wohnzimmer eines Deutschen in der Regel nicht, weil es nicht in gleichem Maße in der Kultur verankert ist zu sagen: Komm jetzt mal zu mir nach Hause, ich koche dir was. Das sind eben verschiedene Lebenswelten – damit kann ich umgehen, das stresst mich überhaupt nicht.
Waren Sie denn nun schon einmal in einem deutschen Wohnzimmer?
(lacht) Ja, es gibt einen guten Freund, bei dem ich jederzeit auftauchen kann. Und ein anderer meinte nach meinem Satz damals: Das müssen wir ändern! Damit sind es schon zwei Wohnzimmer geworden.