: Das große Muttern
VON HEIDE OESTREICH
Schrapp, macht die Guillotine. Und der Kopf der Madame Roland ist vom Körper getrennt. Wir sind ins Zeitalter der Mütterlichkeit guillotiniert worden. Jeanne-Marie Roland hatte sich während der Französischen Revolution erdreistet, außer Mutter auch noch Politikerin zu sein. Die Begründung ihrer Hinrichtung: „Sie war Mutter, doch sie hatte die Natur vernachlässigt, indem sie sich über sie erheben wollte.“
Es waren die Erben der Rousseau’schen Aufklärung, die hier eine Mutter exekutierten, die wider ihre „Natur“ handelte. Den Menschen wollte Rousseau von religiösen und feudalen Ketten befreien. Doch die Frau fesselte er sogleich wieder: an ihre vermeintlich mütterliche Natur. Sie habe keinen freien Willen, meinte er. Die Frau ist Körper, nicht Geist, so das Verdikt.
Alles längst vorbei? Keineswegs: Die Aufklärung ist für uns immer noch die Epoche des Lichts nach langer Dunkelheit. Ihr Denkschema, den Mann als vernunftbegabtes Geistwesen zu definieren, die Frau bei der Natur und den Leidenschaften anzusiedeln, haben wir bis heute mitgeschleppt. Die Exekution der Madame Roland ist das Symbol dieses Paradigmas: Deinen eigenen Kopf sollst du deiner „Natur“, dem Körper, unterordnen, sonst ist er bald ab. Auch der Feminismus, der dies Muster immer wieder entlarvte, ist in seinem Bann geblieben. Auf eine unheimliche, weil über weite Strecken unbewusste Art wirkt das Paradigma der Mutter als natürlicher Bestimmung der Frau bis heute.
Die Humanwissenschaften haben gerade dieses Erbe der Aufklärung lange weitergetragen. Auf der einen Seite erklärten Soziobiologen unter Verweis auf liebevolle Affenmütter, das große Muttern stecke in den Genen. Doch auch Psychologen, die vor allem in der sozialen Umwelt die Ursachen für das Verhalten der Menschen finden, kamen interessanterweise beim Muttermythos an. Bahnbrechend waren die Forschungen des Psychologen John Bowlby aus den Sechzigerjahren. Er beobachtete, dass Kinder stabile Beziehungen brauchen, um nicht zu verwahrlosen. Und lange Zeit zweifelte niemand daran, dass es die Mutter sein müsse, die diese Bindung zu garantieren habe. Fazit: Wer sein Kind liebt, erzieht es selbst und stellt eigene Interessen zurück. Das ist das Schafott, auf dem den Frauen sinnbildlich bis heute der Kopf vom Körper getrennt wird.
Mit solchen Thesen wollte die neue Frauenbewegung gründlich aufräumen. Die Rebellion der Frauen Anfang der Siebzigerjahre hatte genau dieses Ziel: Sie wollten ihre Köpfe behalten. Nicht mehr auf den Körper reduziert werden. Ganz sein. Doch hier begann das unheimliche Wirken des Muttermythos: Er bestand nämlich auch noch in seiner Negation fort.
Denn die feministische Rebellion war zwar in vieler Hinsicht erfolgreich, aber die Mütter hat sie nicht befreit. Und das ist bemerkenswert. Frauen erkämpften sich gleiche Rechte. Das Patriarchat wurde analysiert und der Muttermythos entzaubert. Zu hunderten beschrieben Autorinnen die Falle, in die Mütter nach der Geburt der Kinder geraten. Aber es gelang ihnen nicht, ein neues Modell von Mutterschaft zu etablieren. Warum nicht?
Die politisch dominierende Strömung des Feminismus hat vor lauter Begeisterung, den Frauen endlich den Kopf zu retten, den Körper einfach nicht mitgenommen. Man könnte sogar sagen, unbewusst haben sie ihn verleugnet. Der Verweis auf ihren gebärfähigen Körper war für diese Frauen ein ideologisches Instrument des Patriarchats. Aus dieser Differenz zum Mann wurde die Unterdrückung der Frau abgeleitet. Simone de Beauvoir sprach von der Mutterschaft als „Versklavung der Frau durch die Gattung“. Wer Mutter ist, kann nicht frei sein. Die Klassikerinnen der Frauenbewegung, Betty Friedan, Kate Millet, Germaine Greer, sie alle lehnten mit der patriarchalen Kleinfamilie das herkömmliche Mutterbild ab. Alice Schwarzer schreibt noch im Jahr 2000: „In der Tat sind Mutterschaft und Kinderkult heute die effektivste Waffe gegen die Emanzipation.“ Nur: Sie alle entwickelten kein alternatives Bild vom Körper, keine Alternative für Mütter. Ihre Antworten auf die Mutterfrage blieben theoretisch: Kinderbetreuung muss her. Die Väter müssen einbezogen werden. Aber es gab keine Strategie, wie man dies durchsetzen könne. Der feministische Kampf wurde auf anderen Feldern gefochten: Paragraf 218, Männergewalt, Lohn- und Quotenkämpfe. Das Recht auf Abtreibung wurde erkämpft – aber nicht das Recht auf Kinder.
Es war eine unbewusste Verleugnung der Mutterschaft. Denn die implizite Antwort auf die Frage nach dem eigenen Lebensentwurf lautete: Bloß kein Kind bekommen. So haben Beauvoir und Schwarzer es vorgemacht, und viele beruflich engagierte Frauen von heute machen es ihnen nach. Wer sich freiwillig in die Falle der Mutterschaft begibt, ist selbst schuld. Schlimmer noch: Sie übt eigentlich Verrat am Feminismus, denn jede Kleinfamilien-Mutter ist eine Kollaborateurin, die das Patriarchat verlängert. Die Avantgarde des Feminismus wollte nicht mehr auf den Körper reduziert werden – und nahm ihn gleich ganz aus dem Blickfeld. Zugespitzt könnte man sagen: Sie haben die Guillotine nur umgedreht. Jetzt sieht man nicht den Kopf fallen, sondern den Körper.
Eine Gegenbewegung ließ nicht lange auf sich warten: Ebenfalls in den Siebzigern fingen „Differenz-Feministinnen“ an, mit den Unterschieden von Mann und Frau auch die Mütterlichkeit zu feiern. Zwar forderten viele Differenz-Vertreterinnen grundsätzlich eine weiblichere und mütterlichere Politik ein, also auch die Mütterlichkeit von Staat und Männern. Doch in der Praxis verkümmerte auch der Differenz-Feminismus – diesmal in die andere Richtung: Hier wurden Menstruationszyklen studiert und mit dem Mondkalender verglichen, Gebären und jahrelanges Stillen als urweibliche Erfahrung propagiert. Politische Forderungen, etwa im 1987 verfassten „Müttermanifest“ einer Mütterfraktion bei den Grünen: Geld für ihre Erziehungsarbeit und Mütterzentren. Weder Staat noch Väter sollten für Kinder zuständig werden – das erledigten die grünen Mütter lieber selbst.
Fronten und Feindbilder entwickelten sich. „Ihr ignoriert unseren mütterlichen Körper“, riefen die einen. „Ihr reduziert uns auf den mütterlichen Körper“, die anderen. Obwohl nun schon alle nach der ganzen Frau riefen, blieb am Ende eines: eine scharfe Klinge, die Kopf und Körper trennt.
Das Unbehagen am großen Muttern, diesem unbewussten Anderen der Aufklärung, hat dennoch für Fortschritte gesorgt. In anderen Ländern. Schneller als in Deutschland hat man dort die Arbeitskraft der Mütter jenseits der Kinderzimmer gebraucht und zu schätzen gewusst. Im Ostblock sowieso, in Skandinavien, in den USA, in Frankreich.
Dass der Staat gerade in Deutschland nicht gern das Bemuttern übernimmt, hat viel mit der Befeuerung der Mutterideologie im Nationalsozialismus zu tun. Aber auch mit der Gegenbewegung dazu: In der Nachkriegszeit lehnte man nun staatliche Eingriffe in die Familie generell ab. Mit der DDR nebenan hatte die Bundesrepublik zudem das Feindbild „Fremdbetreuung“ stets dicht vor den Augen. Staatliche Kinderbetreuung, das ist die Erziehung des formierten autoritätshörigen Menschen, so hieß es. Dass man Gruppen verkleinern, Erzieher besser ausbilden könnte, andere pädagogische Konzepte entwickeln, versank im Sumpf der Ideologie.
Der unbewusste Mutterkult hat eine Ungeheuerlichkeit geschaffen. Daheimbleibende Mütter sind ohnehin keine Emanzipations-Vorbilder, dazu sind sie als Bindungs- und Bildungs-Expertinnen auch noch schuld an jedem Problem des Kindes. Aber auch Frauen, die im Beruf vorankommen wollen, sitzen in der Mutterkult-Falle: Sie haben vorsichtshalber keine Kinder und deshalb Angst, etwas Elementares zu verpassen. Wenn sie doch welche haben, schlägt pausenlos das schlechte Gewissen. Das große Muttern holt jede ein, egal, wie sie sich herauswinden möchte.
Dass dies heute überhaupt sichtbar wird, kann nur daran liegen, dass der ganz große Mythos des Mutterns langsam verblasst. In der Wissenschaft hat die Verabschiedung schon längst eingesetzt: Bei genauerer Betrachtung stellt sich heraus, dass der Mutterinstinkt im Tierreich keineswegs blinde Aufopferung für den Nachwuchs bedeutet. Vielmehr lassen Tiermütter einen Teil ihrer Nachkommen schon vorsorglich sterben, wenn sie merken, dass die Aufzuchtbedingungen zu schlecht werden, beschreibt die Evolutionsbiologin Sarah Blaffer Hrdy in ihrem Standardwerk „Mutter Natur“. Wenn man solche Vergleiche überhaupt heranziehen möchte, dann müsste man sagen: Gerade die kinderlosen Frauen verhalten sich nach einem urtümlichen Mutterinstinkt: Sie lehnen es ab, unter ungünstigen Bedingungen Kinder in die Welt zu setzen.
Auch die psychologische Bindungstheorie hat sich langsam von der Mutter abgenabelt: Tatsächlich begünstigt die Hormonlage der Mutter nach der Geburt, dass sie schneller auf das Kind reagiert. Nicht zuletzt beim Stillen wird diese Bindung verfestigt. Doch wenn keine Mutter da ist oder die Mutter sich eine Weile taub stellt, so berichtet Blaffer Hrdy, dann kann auch eine andere Person, ja: auch ein Mann, Mutterqualitäten für eine gute Bindung entwickeln. Spätestens mit dem Abstillen könnten Väter genauso gut muttern wie Mütter: Sie müssen nur wollen – und man muss sie lassen.
Es scheint, dass wir nach hunderten von Jahren doch bereit sind, die Guillotine einzumotten. Gute Ganztagsbetreuung ist sogar in der Bundesrepublik denkbar geworden – wenn auch noch nicht finanzierbar. Die Sinnlosigkeit des Streits zwischen Differenz-Müttern und Karriere-Feministinnen ist weitgehend erkannt. Die beiden Feminismus-Ansätze sind in der Praxis ohnehin nicht mehr zu spüren: Im Alltag nämlich geht frau heute zur Karriereberatung und morgen zum Atmen mit dem Mond. Mit anderen Worten: Sie versucht individuell, Körper und Kopf vor der Guillotine zu retten, ganz zu bleiben. Das schließt ein, dass man als Mutter die Ansprüche seiner Kinder nicht verleugnet. Dass man ihnen aber auch Grenzen setzen kann, falls man sein Heil nicht allein im Bemuttern sieht. Das zwangsweise große Muttern der Mütter hat ein Ende. Das große Muttern der Gesellschaft, des Staats und der Väter aber, das fängt erst richtig an.