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Archiv-Artikel

Radikale sind keine Bösewichte

Laut medizinischem Lehrbuch entstehen zahlreiche Zivilisationskrankheiten aus einem Übermaß an radikalem Sauerstoff. Diese Theorie existiert seit etwa 40 Jahren. Doch zunehmend äußern jetzt Mediziner Zweifel an der nie bewiesenen Annahme

Der Mensch bildetviele freie Radikale, wenn er zu viel isst, joggt, raucht oder sonnenbadet

VON KATHRIN BURGER

Anthony Segal glaubt, er habe keine Mitstreiter. Der Immunologe am University College in London erforscht, mit welchen Waffen weiße Blutkörperchen gegen Bakterien vorgehen. Bis dato lautet die Lehrmeinung: Die Abwehrzellen bilden freie Sauerstoffradikale, um den Körper vor fremden Eindringlingen zu schützen. Weil diese freien Radikale so aggressiv sind, sind sie auch imstande, sich gegen menschliches Gewebe zu richten. Nehmen die Radikale überhand, kommt es zu Herzinfarkt, Krebs, Alzheimer, Parkinson und Arthritis.

Doch Segal bestreitet das. Seine These: Freie Radikale sind nicht die Bösewichte, für die sie gehalten werden. Sie sind lediglich ein Zeichen dafür, dass zellschädigende Reaktionen im Körper ablaufen. Auf die Frage, ob Segal Kollegen kennt, die die Radikal-Theorie anzweifeln, fällt ihm niemand ein. Und doch gibt es immer mehr Sympathisanten. Die Radikal-Theorie gibt es seit etwa 40 Jahren. Sie besagt, dass in Stressreaktionen freie Sauerstoffradikale entstehen. Das sind Molekülbruchstücke, denen ein Elektron fehlt. Sie versuchen diesen Verlust auszugleichen, indem sie anderen Molekülen Elektronen entreißen, kurz: „oxidieren“. Man spricht deshalb auch von „oxidativem Stress“.

Der Mensch bildet viele freie Radikale, wenn er zu viel isst, joggt, raucht oder sonnenbadet. So manchem gilt die molekulare Aggression als die Bedrohung schlechthin in der heutigen Zeit, weil auch chronische Entzündungen, Krebs und Alzheimer mit einem messbar hohen Level an Radikalen Sauerstoffspezies (ROS) im Blut einhergehen.

Mit Beta-Carotin, Vitamin C oder E, Selen oder Tomaten-Lykopen, also Antioxidantien, müsse man dagegen vorgehen. Ein Millionengeschäft für die Hersteller von Multivitaminpräparaten oder Fruchtextrakten. Auch Test Kits für die fixe Bestimmung des individuellen Stresslevels gehen immer häufiger über den Tresen.

Der Griff in die Pflanzenapotheke liegt nahe, da Pflanzen eine besonders effektive Chemie gegen Sauerstoffstress entwickelt haben. Und einige Studien legten nahe, dass Obst- und Gemüsefans seltener an den gefürchteten Alterskrankheiten sterben. Doch bei den großen Herzinfarkt- und Krebsstudien kam es sogar zu mehr Todesfällen bei Probanden, die vorsorglich antioxidative Vitamine in Kapselform schluckten. Auch der Schutz durch gemüse- und obstreiche Kost ist laut aktuellen Studien nicht mehr gesichert.

Dies weckt Zweifel an der Radikal-Theorie. Tilman Grune, Altersforscher an der Universität Düsseldorf, glaubt allerdings an Fehler im Studiendesign. Beispielsweise sei Vitamin E für den Schutz des Cholesterins vor Oxidation eventuell nicht die wichtigste Substanz. Zudem müsste vor den Studien geprüft werden, ob die Probanden schon genügend mit Antioxidantien versorgt seien. „Denn dann kann zusätzliches Vitamin E nichts mehr ausrichten“, so Grune.

Ähnliches gilt für Beta-Carotin, schreibt die Forscherin Paola Palozza, Medizinerin an der Universität Rom, in einem Übersichtsartikel. Es sei in niedrigen Dosen ein guter Radikal-Fänger, aber in großen Mengen und bei chronischem oxidativem Stress schlage es sich auf die Seite der Gegner und wirkt prooxidativ – deshalb hatten Beta-Carotin-Tabletten bei Rauchern und Asbestarbeitern das Risiko für Bronchialkarzinom erhöht. Laut Grune sind Antioxidantien aber in einigen Studien bei Parkinson oder Alzheimer ebenso wirksam wie Medikamente.

Nick Lane, Biochemiker und Buchautor („Oxygen: The Molecule That Made the World“) hat eine andere Erklärung, warum die Antioxidantien-Studien fehlschlugen: „Eine Aufgabe der freien Radikale ist es, Alarm zu schlagen, um Immunzellen an den Ort einer beginnenden Infektion zu lotsen. Der Körper blockiert daher Antioxidantien, damit sie die Radikale nicht zu sehr neutralisieren. Sonst würde sich das Infektionsrisiko erhöhen.“ Zudem haben ROS auch positive Seiten – als Botenstoffe beeinflussen sie das Zellwachstum und wirken am Zellschutz mit.

Regina Brigelius-Flohé, Wissenschaftlerin am Deutschen Institut für Ernährungsforschung (Dife) in Potsdam, vertraut auch auf die Selbstregulierung des Körpers: „Freie Radikale werden sehr gut in Balance gehalten.“ Denn nicht nur Pflanzen, auch Menschen haben Reparaturwerkzeuge parat, um die aggressiven Stoffe zu bannen. ROS entstehen unter anderem in den Kraftwerken der Zellen, den Mitochondrien. Dort fallen etwa 0,2 bis 2 Prozent „Radikal-Müll“ bei der Zellatmung an.

Doch wie dieses stabile System etwa bei Krebs aus dem Gleichgewicht gerät, weiß man nicht. „Auch in welchem Ausmaß freie Radikale für die Krankheitsentstehung eine Rolle spielen, weiß man nicht genau“, gibt Professor Michael Reth, Forscher am Max-Planck-Institut für Immunbiologie in Freiburg, zu. Freie Sauerstoffradikale könnten rein theoretisch Proteine oxidieren und schädigen; sie hätten damit auch einen Einfluss auf die Genregulation. Mit der heute zur Verfügung stehenden Analytik sei das aber nicht nachzuweisen, weil Radikale nur Mikrosekunden lang existierten. Viele Fragen, wenig Fakten. Und doch halten die meisten Forscher bislang an der Radikaltheorie fest, zumal es noch keine plausiblen Gegenvorschläge gibt.

Segal bleibt derweil Anarchist. Er fordert seine Kollegen auf, alle Theorien über die Rolle der ROS bei der Krankheitsentstehung über den Haufen zu werfen. Den Anfang hat der Immunologe bereits gemacht. Er zeigte, dass Abwehrzellen Bakterien nicht mit freien Radikalen abtöten, sondern sie schlichtweg verdauen.