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Archiv-Artikel

Magersüchtige Männer holen sich spät Hilfe

Männer realisieren die Krankheit später als Frauen. Sie schämen sich mehr

Muskeln sind das Ideal:Magersucht tritt bei Männern häufig in Verbindung mit Fitnesswahn auf

Männer machen Karriere, Frauen Diäten? Quatsch! Auch Männer hungern für Schönheit und Körperideal. Waschbrettbauch, breite Schultern und ein knackiger Po gelten als begehrenswert – schon bei Jungen. So machten 12 Prozent der Elf- bis Fünfzehnjährigen aktuell eine Diät, als sie 2002 für die Bielefelder Studie „Health Behaviour in School Children“ befragt wurden. Dabei litten bereits 7 Prozent der Jungen an Untergewicht.

Häufige Diäten gelten als klassischer Einstieg in eine Essstörung. Schätzungen zufolge leben in Deutschland mehr als 100.000 an Magersucht erkrankte Menschen zwischen 15 und 35 Jahren. Etwa 5 Prozent der Magersüchtigen sind Männer. Die Dunkelziffer ist allerdings sehr hoch. Denn Männer realisieren die Krankheit seltener und holen sich später Hilfe. „Der Schamfaktor ist bei Männern größer“, erklärt Irene Roth vom Frankfurter Zentrum für Essstörungen. „Magersucht gilt noch immer als typische Frauenkrankheit.“

Nur ein klein wenig magersüchtig zu sein, wünscht sich mancher mit zu viel Speck auf den Hüften. Doch das bagatellisiert die Sache. „Ein bisschen Magersucht gibt es so wenig wie ein bisschen schwanger“, sagt die Beraterin. „Magersucht ist eine ernst zu nehmende psychische Erkrankung.“ Medizinisch gilt jemand als magersüchtig, wenn sein Body-Mass-Index (BMI) unter 17,5 liegt. Dabei wird das Gewicht in Kilogramm durch die Körpergröße in Metern zum Quadrat geteilt. Die Sucht hingegen beginnt, bevor sie am abgemagerten Körper sichtbar wird. „Kennzeichnend ist, wenn die Gedanken ständig um Essen, Aussehen, Gewicht, Fett, Kalorien und das Vermeiden bestimmter Nahrungsmittel kreisen“, beschreibt Roth.

Am Anfang der Magersucht spielen bei Männern Schönheitsideale eine etwas größere Rolle als bei Frauen, hat Roth festgestellt. Weitere Hintergründe seien eine gestörte Beziehung zum Ich, fehlende Ich-Du-Abgrenzung, eine sehr ausgeprägte Mutterbindung. „Riesenthemen sind Macht und Kontrolle“, erklärt die Expertin. Nicht nur über sich und seinen Körper. „Stellen Sie eine Familie vor, in der sich irgendwann alles nur noch um das Thema Magersucht dreht. Das lenkt natürlich die Aufmerksamkeit auf den Betreffenden.“

Georg Ernst Jacoby, Chefarzt der psychosomatischen Klinik am Korso in Bad Oeynhausen beobachtet bei magersüchtigen Männern zudem häufig eine Kopplung mit Fitnesswahn, „Anorexia athletica“ genannt. „Magersüchtige Frauen wollen nicht dick werden, magersüchtige Männer muskulös.“ Im Leistungssport gelten Skispringer, Eiskunstläufer, Turner und Langstreckenläufer als besonders anfällig für Essstörungen. Deutsches Beispiel: Ruderer Bahne Rabe. Der Olympiasieger erlag 2001 mit 37 Jahren den Folgen seiner Magersucht. Laut Schätzungen hungern sich bis zu 15 Prozent aller Magersüchtigen zu Tode. Weitere Folgen von Anorexia nervosa – so der medizinische Fachbegriff – können Osteoporose, Schäden an Herz, Leber, Niere und Gehirn, das Ausbleiben der Menstruation, Depressionen, Konzentrationsschwäche sowie ständiges Frieren sein. „Um das auszugleichen, entwickelt der Körper oft mehr Behaarung“, berichtet Roth. Für viele ein Affront ihres Schönheitsideals! Normalisiert sich das Körpergewicht, fällt diese so genannte Laguno-Behaarung allerdings wieder aus.

Der einzige Weg aus der Magersucht ist eine Therapie. Ambulant oder stationär lernen die Patienten wieder normal zu essen. Zusätzliche Gestalt- und Körpertherapien helfen ihnen, eine gute Beziehungsfähigkeit zu sich, ihrem Körper und anderen aufzubauen. „Magersüchtiges Verhalten lässt sich ändern“, resümiert Roth. „Seelische Narben aber bleiben.“ Krisen spürten Ex-Magersüchtige am ehesten in ihrem Essverhalten. „Es kann ein Fingerzeig werden.“MARTINA JANNING

Hilfe in Berlin: www.essstoerungs-netzwerk.de; www.dick-und-duenn-berlin.de; bundesweit: www.magersucht-online.de