: „Unser Leben ist ein Genesungsprozess“
KRIMI Wer lange auf der Straße gelebt hat, sieht sehr viel Gewalt und Zerstörung: Der US-amerikanische Schriftsteller James Sallis gibt sie in seinen Büchern – darunter der Thriller „Drive“ – so authentisch wie möglich wieder
■ Der Autor: geboren 1944, arbeitete nach einer Ausbildung zum Atemtherapeuten zunächst in verschiedenen Kliniken. Sallis lehrt heute Kreatives Schreiben am Phoenix College in Arizona.
■ Die Bücher: Sein internationaler Durchbruch gelang ihm mit „Drive“, dessen Verfilmung mit Ryan Gosling in der Hauptrolle zum Kinoerfolg wurde. Auf Deutsch erschien von Sallis zuletzt „Stiller Zorn“ (DuMont 2013).
INTERVIEW VOLKER HUMMEL
sonntaz: Herr Sallis, am Phoenix College unterrichten Sie den Kurs „Romane schreiben“. Was kann man da lernen?
James Sallis: Zuerst hört man meinen Vortrag darüber, warum Creative-Writing-Kurse Zeitverschwendung sind. Sie sind ein sich selbst tragendes System, die meisten Kursleiter haben früher selbst welche besucht und kauen nur die Phrasen wieder, die sie dort gehört haben. Es gibt nur eine Art, schreiben zu lernen: Setz dich an deinen Schreibtisch und mach es. Die Kunst des Schreibens lässt sich nicht formalisieren, deshalb erkläre ich meinen Schülern gleich zu Beginn, dass ich intuitiv arbeite und die richtige Form bei jedem einzelnen Werk während des Schreibens erst herausfinden muss.
Wie findet man die richtige Form?
Man muss die volle Aufmerksamkeit auf das richten, was man zu Papier bringt. Dafür braucht man Geduld, man muss warten können. Das Erste, was einem beim Schreiben einfällt, ist fast immer ein Pastiche von etwas Vorangegangenem. Wenn ich mir zum Beispiel eine Kneipe vorstelle, kommen mir zuerst Bars in den Sinn, die mir in TV-Shows, Filmen, Büchern begegnet sind. Man kann lernen, diese ersten Bilder zu verwerfen und zu warten, bis eine echte Bar auftaucht, die man mal irgendwo gesehen hat. Meistens sind es nur Teile, die man zusammenträgt, um seinen eigenen Raum auf der Seite entstehen zu lassen. Eine der Aufgaben, die ich meinen Studenten gebe, besteht darin, sich in ein Café zu setzen, zu lauschen und aus dem Gehörten und Gesehenen eine zweiseitige Geschichte zu machen, die weitgehend aus Dialog besteht. Die meisten Menschen haben keine Ohren für das, was um sie herum vorgeht. Meine schwierigsten Studenten sind Anwälte. Die sind darauf geeicht, alles, was sie hören, in ein juristisches Raster einzufügen und in eine bestimmte Terminologie zu übersetzen. Da ist kein Raum für Zwischentöne, das genaue Gegenteil von dem, was Literatur macht. Ich halte Tschechow für den ersten modernen Schriftsteller, weil er so viel Raum für den Leser geschaffen hat. Während die Prosa des 19. Jahrhunderts seitenlange Beschreibungen einer Landschaft liefert, steht bei ihm nur so etwas wie: Aus dem Boden ragte eine zerbrochene Flasche, auf der das Mondlicht glänzte. So ein Satz versetzt den Leser mitten in die Szene, statt ihn nur von außen darauf schauen zu lassen. Verknappung ist essenziell: Wenn du im Zweifel bist, schmeiß es raus. Meine Studenten sagen mir allerdings, dass das nur eine Entschuldigung für mich sei, sehr dünne Bücher zu schreiben.
Wie sieht eine Unterrichtseinheit aus?
Wir sprechen über die Manuskripte, an denen die Studenten gerade arbeiten. Ich unterstreiche Passagen, mache Vorschläge zur Struktur und stelle Fragen wie: Bist du wirklich in deiner Story? Gibst du ihr deine volle Aufmerksamkeit? Beim Schreiben schleichen sich Automatismen ein, man glaubt zu wissen, wie sich die Geschichte entwickelt, und formt sie dann wie ein Töpfer einen Aschenbecher. Diesen Automatismus versuche ich immer wieder zu unterbrechen, denn er verhindert die Magie des Schreibens, die Möglichkeit, dass die Figuren unvorhersehbare Dinge tun. In den meisten Fällen wissen wir gar nicht, was wir eigentlich schreiben. Ich bin überzeugt davon, dass nur dann, wenn man sich selbst überrascht, man auch den Leser überraschen kann. Wenn ich drei Seiten geschrieben habe und Langeweile verspüre, fliegen sie raus, und ich probiere es auf eine andere Art. Das erzähle ich auch oft im Kurs: „Leute, ich habe es schon wieder getan. Ich dachte, ich wüsste, wo es langgeht, aber gerade ist eine neue Figur aufgetaucht, und ich habe keine Ahnung, was sie vorhat.“
Unterrichten Sie aus ökonomischer Notwendigkeit?
Als ich anfing, war es ein Brotjob. Seit „Drive“ kann ich allerdings von meinen Einnahmen als Autor leben. Das habe ich aber nicht den USA zu verdanken, sondern Europa. Meine Lizenzeinnahmen aus Ländern wie Deutschland, Frankreich und Finnland sind größer als die Honorare, die ich von meinen amerikanischen Verlegern erhalte. Als ich letztes Jahr in Europa auf einer Lesereise war und mit meiner Frau im Flieger nach Hause saß, sagte sie zu mir: „Mit jedem zurückgelegten Kilometer wirst du ein kleines Stückchen unbekannter.“
Eine Frage stellt sich mir nicht nur bei Ihren, sondern bei vielen amerikanischen Krimis: Woher kommt diese wahnsinnige Gewalt?
Es klingt ja immer sehr prätentiös, wenn man so etwas sagt, aber ich glaube, eine der Stärken meiner Bücher liegt darin, dass sie daran erinnern, dass die Menschen zu den grausamsten Dingen fähig sind. Wir haben Auschwitz geschaffen, wir führen blutige Kriege und wir leben in Städten wie New Orleans oder Baltimore, in denen im Schnitt jeden Tag ein Mord begangen wird. Vor allem in den USA gibt es ein reiches Erbe verdrängter Gewalt. Es ist wichtig, sich dieser Gewalt zu stellen und sie in uns selbst zu erkennen. Wenn man wie ich lange auf der Straße gelebt hat, dann sieht man sehr viel Gewalt und Zerstörung, und ich versuche in meinen Büchern, diese Welt möglichst authentisch wiederzugeben.
Mehr noch als mit der Gewalt beschäftigen Sie sich in Ihren Büchern mir dem, was danach kommt, mit Genesungsprozessen, es gibt sehr viele Klinikszenen. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Ich glaube, unser Leben ist nichts anderes als ein immer wieder neu begonnener Genesungsprozess. Geoffrey O’Brien stellt in „Hardboiled America“ die Vermutung an, dass in den klassischen Pulp-Geschichten der Detektiv nur deshalb so oft verprügelt wird, weil der Autor jeden Morgen aufs Neue seinen Kater überwinden muss. Was die vielen Klinikszenen betrifft, so sind diese der Authentizität geschuldet, von der ich schon gesprochen habe. Jeder, der mal auf der Straße gelebt hat, landet früher oder später im Krankenhaus. Ich habe außerdem über 25 Jahren lang in Kliniken gearbeitet, wo ich für die Überwachung der Beatmungsmaschinen verantwortlich war. Zuerst war ich in der Notaufnahme tätig, später arbeitete ich auf der Entbindungsstation und kümmerte mich um Frühgeburten. Das hat mich gerettet, weil ich auch in den schwierigsten Zeiten immer einen Job gefunden habe und ich vieles gesehen habe, was ich in meinen Büchern verarbeite: Menschen am Rand der Gesellschaft, Alkoholiker, Frauen, die von ihren Männern verprügelt wurden. Einige, die immer wiederkehrten, habe ich sehr gut kennengelernt. Das ist ein Teil Amerikas, der oft übersehen wird.
Ich habe bei amerikanischen Krimis oft den Eindruck, dass die Gewalt nicht nur etwas Zerstörerisches ist, sondern auch positive Züge hat, weil sie Platz macht für das Neue.
Oh ja, jemand hat mal gesagt, dass sich Amerika zur Demokratie gemordet hat. Und wir haben eine große Begabung darin, nichts aus unserer Geschichte zu lernen. Das spiegelt sich auch in der amerikanischen Literatur wider, die sich grundlegend von der europäischen unterscheidet. Der moderne europäische Roman handelt davon, wie ein Individuum seinen Platz in der Gesellschaft sucht. Der amerikanische Roman handelt vom Kampf des Einzelnen gegen die Gesellschaft. Diese bis heute nicht abgerissene Traditionslinie lässt sich bis zur „frontier literature“ zurückverfolgen, die von der Westexpansion und der Eroberung der Wildnis handelt. Die Figuren von James Fenimore Cooper, Mark Twain und Herman Melville sind Einzelgänger, die fern der Zivilisation nach ihren eigenen Regeln leben. In der Figur des Lonesome Cowboy, der aus der Wüste in die Stadt geritten kommt, dort für Ordnung sorgt und wieder in den Sonnenuntergang davonreitet, hat dieser amerikanische Individualismus seine populärste Ausprägung gefunden. Dieser Mythos ist tief in uns verankert, er wirkt immer noch. „Drive“ zum Beispiel ist ein zeitgenössischer Western. Driver ist eine Frontier-Figur, die dasselbe macht wie Huck Finn und alle amerikanischen Helden: „lighting out for the territory“, die Erkundung neuer Gebiete, aber auch das Verschwinden darin.
Besitzen Sie eine Waffe?
Ich habe keine, aber viele unserer Freunde haben welche. Arizona ist ein Open-Carry-State, jeder kann seine Waffen also ohne Lizenz offen herumtragen, und es gibt hier viele Gun Shows, wo man fachsimpeln und sich die neuesten Modelle ansehen kann. Dieser Waffenfetischismus macht mir Angst, obwohl ich in einer Kleinstadt in Arkansas aufgewachsen bin, wo die Jagd zum Alltag gehörte, die Menschen dort lebten von dem, was sie erlegten. Etwas anderes aber ist es in Städten wie New Orleans. Als ich dort lebte, war ich mit meiner Frau mal zu einem Dinner eingeladen. Einer der Gäste zog plötzlich seine neue Pistole raus, wir waren geschockt. Gleich danach holten auch alle anderen Gäste ihre Waffen hervor, aus Holstern und Taschen, und legten sie auf den Tisch. Das waren allesamt wohlerzogene, ganz normale Leute, und wir waren die Einzigen unter ihnen, die nicht bewaffnet waren.
Ein anderes Merkmal amerikanischer Krimis ist der ungeheure Konsum von Alkohol und Kaffee. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Der Schriftsteller Samuel R. Delany hat gesagt, dass Schreiben von „instant nostalghia“ handelt, also von einem sich ständig erneuernden Gefühl des Entschwindens der Gegenwart in eine Vergangenheit, der man nur in der Sprache habhaft werden kann. Das Sitzen in Küchen und auf Verandas, wo die Figuren allein oder gemeinsam Kaffee oder Wein trinken, stellen für mich ein grundlegendes Ritual dar, mit dem das Chaos zumindest für kurze Zeit gebannt wird. Diese Rituale strukturieren den Tag und geben uns Gelegenheit, gemeinsam mit den Menschen, die uns am meisten bedeuten, all die kleinen und großen Dinge zu besprechen, die unser Leben ausmachen. Literarisch sind diese Szenen sehr wertvoll, weil sie dem Autor erlauben, dem Leser auf subtile Weise wichtige Informationen zu liefern. Die Kunst besteht darin, gerade solche „kleinen“ und „unbedeutenden“ Szenen so zu schreiben, als ob sie das gesamte emotionale Gewicht des Romans tragen.