: „Ich bin ein Laborfuzzi“
Christian Pitra
Der Plastikbeutel auf seinem Schreibtisch enthält eine kleine Sensation: Die braunen Kügelchen sind Dung der seltensten Antilopenart der Welt. Das hat Prof. Dr. sc. nat. Christian Pitra, 64, per DNA-Analyse nachgewiesen. Dass er und sein Team am Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) den Beweis führen durften, ist kein Zufall – die vom Wissenschaftsrat glänzend evaluierte Einrichtung hat auch international einen guten Ruf. Der Molekularbiologe Pitra leitet im IZW die Forschungsgruppe Evolutionsgenetik, die sich unter anderem mit besonders schützenswerten, weil evolutionär bedeutsamen Arten beschäftigt. Das Institut grenzt an den Tierpark. Mit etwas Fantasie hört man im Hintergrund das Schnauben afrikanischer Huftiere
Interview CLAUDIUS PRÖSSERund ULRICH SCHULTE
taz: Herr Pitra, Sie haben nachgewiesen, dass die seltenste Antilope der Welt noch existiert. Ist die angolanische Riesenrappenantilope gerettet?
Christian Pitra: Nein. Wir haben zwar durch die Genanalyse des Dungs bewiesen, dass die Antilope noch vorkommt. Ob die Unterart überlebt, ist aber längst nicht sicher. Bei Säugetieren kann eine Population unter 100 Tieren rein zufällig aussterben – etwa wenn über mehrere Generationen mehr männliche als weibliche Tiere geboren werden.
Fangen wir vorne an: Wie kamen Sie an die Dungproben?
Ein portugiesischer und ein britischer Kollege haben 2004 in Angola nach der Riesenrappenantilope gesucht. Von Einheimischen bekamen sie erste Hinweise. Gesichtet haben sie die Antilope nicht, allerdings fotografierten sie Spuren und sammelten Dungproben. Unser Institut hat viel Erfahrung auf dem Gebiet der Evolutionsgenetik. Deshalb packten sie die Proben in ein Paket und schickten es an uns.
Wie haben Sie vom Dung auf die als ausgestorben geltende Antilopenart geschlossen?
Das ist bei Pflanzenfressern nicht ganz einfach. Sie haben eine Unmenge von Bakterien im Darm, die ihnen bei der Verdauung helfen. Auch die besitzen natürlich DNA. Hin und wieder findet sich aber eine Antilopenzelle aus der Darmschleimhaut. Deren DNA haben wir isoliert und vervielfältigt.
Das Ergebnis ist ein genetischer Finger-…, äh, Hufabdruck der Antilope.
Genau. Der sieht erst mal unspektakulär aus: eine lange Reihe aus den Buchstaben A, C, G und T. Eine Datenbank vergleicht sie dann mit Millionen gespeicherter Gensequenzen. So ähnlich verfährt die Polizei, wenn sie mit DNA-Material einen Täter sucht.
Aber woher stammt die Sequenz in der Datenbank?
Das Material kam aus einem Zahn einer Trophäe. Die hing seit den 20ern in Südafrika über einem Kamin. Um sicherzugehen, haben wir die Sequenz aus dem Dung noch mit Sequenzen aus Fellen aus amerikanischen Museen verglichen. Dann war klar, dass wir einen Treffer gelandet hatten: Hippotragus niger variani, die Riesenrappenantilope.
Was ist das für ein Gefühl?
Na ja, das ist schon so ein Bingo-Effekt. Sehr spannend.
Sie haben sogar Fotos von der Antilope veröffentlicht. Wie kamen denn die zustande?
Der portugiesische Kollege war noch in Angola. Als wir ihm sagten, dass er eine heiße Spur gefunden hatte, hat er sich noch mal aufgemacht und automatische Kameras an Wasserstellen oder Salzlecken aufgestellt. Die Fotos, die sehr schön eine kleine Herde zeigen, waren nur der letzte Beweis. Sogar zwei trächtige Kühe sind darauf zu sehen.
Was macht diese Art für Naturschützer so besonders?
Es sind sehr große Tiere. Bullen wiegen 260 Kilogramm, die Hörner werden bis zu anderthalb Meter lang. Seit 1982 galt sie als ausgestorben. Und ganz unwissenschaftlich: Sie ist eine der schönsten, eindrucksvollsten Antilopen. Außerdem lebt sie sehr isoliert. Auf der Landkarte ist das ein winziger Punkt.
Woran liegt das?
Wir kennen den Grund nicht. Aber jetzt besteht die Chance, mehr darüber herauszufinden. Sie ist nie lebend aus Afrika herausgekommen, kein Zoo der Welt besitzt ein Exemplar. Als die portugiesische Kolonialregierung die Seltenheit erkannte, hat sie sie strikt geschützt.
Bis 2002 herrschte in Angola ein fast drei Jahrzehnte währender Bürgerkrieg. Wie beeinflusst das die Forschung?
Die Feldforschung war und ist dort sehr gefährlich. Die neue Regierung hatte die Gesetzlosigkeit lange nicht im Griff, viele Gegenden sind vermint.
Haben angolanische Behörden auf Ihre Veröffentlichung reagiert?
Nein. In Angola haben die Feldforscher natürlich die Presse informiert. Viele Angolaner begreifen das Tier als ihr Nationalsymbol, als Zeichen ihrer staatlichen Unabhängigkeit. Die Fußball-Nationalmannschaft trägt die Antilope auf ihrem Trikot, Biermarken führen sie im Etikett. Das Echo war aber eher verhalten. Und als wir unsere Forschungen hier hochrangig veröffentlichen wollten und Kollegen um Gutachten baten, stießen wir auf Neid und Missgunst.
Warum?
Es geht um Ehre und Geld. Die Publikation in einem der wichtigen Magazine wie Science oder Nature bringt Renommee, die Institute sind dringend auf Fördermittel angewiesen. Die Kollegen, die früher in Expeditionen nach der Antilope suchten, waren, vorsichtig gesagt, etwas traurig.
Ist die Antilope Ihr Spezialgebiet?
Nein, es ist ein Gebiet unter vielen. Allerdings blickt unser Institut bei der Rappenantilope auf eine gute Forschungstradition zurück. Wir haben eine schöne Sammlung von DNA-Proben der afrikanischen Antilopen. Deshalb waren wir auch prädestiniert für die Untersuchung der Variani, die fehlte uns noch.
Kann Ihr privates Umfeld dieses sehr spezialisierte Interesse nachvollziehen?
Bedingt. Ab und zu stoße ich auf blankes Unverständnis, manchmal wecke ich echtes Interesse durch meine eigene Begeisterung. Das Interesse der Population, also der Bevölkerung, an Tieren ist ja sehr groß. Man merkt, dass wir im Fernsehen gute Sendezeiten für unsere Themen bekommen, auch die Zeitungen zeigen großes Interesse. Für mich ist das der Ausdruck einer Sehnsucht nach Intaktheit.
Besonders die Berliner gelten als tierlieb. Seit wann leben Sie in der Stadt?
Seit meiner Kindheit. Ich komme aus einer Flüchtlingsfamilie, geboren bin ich in Breslau. Mein Vater war Schauspieler, später übrigens lange Jahre Intendant des Metropoltheaters. Aus der Künstleratmosphäre bei uns zu Hause bin ich dann ausgebrochen.
War das ein rebellischer Akt?
Ich wollte bloß was Anständiges werden (lacht). Mein Vater hat mich auch sehr unterstützt und war im Kreise der Komödianten immer sehr stolz auf mich.
Ist die – lang geteilt lebende – Berliner Population evolutionstheoretisch interessant?
Ein Grundgesetz der Evolution ist, dass neue Entwicklungen durch Isolation entstehen. Wenn eine Population geografisch getrennt wird, driften die Teilpopulationen mit der Zeit genetisch auseinander. Das kann so weit gehen, dass sie sich nicht mehr paaren können.
Das ist ja in Berlin zum Glück nicht der Fall.
Die Teilungsdauer ist evolutionär völlig irrelevant. Aber wir können doch beobachten, dass sich Unterschiede herausgebildet haben, zum Beispiel in der Sprache. Seit der Wende beginnt die Vermischung, wenn auch zögerlich und genetisch sehr selten. Meine Frau stammt aber vom Bodensee. In dieser Konstellation – Westfrau und Ostmann – ist das, glaube ich, sehr selten.
Wieso haben Sie sich auf Evolutionsgenetik spezialisiert?
In der Biologie macht nichts Sinn, es sei denn, man betrachtet es im Lichte der Evolution. Die Natur hat da ein unglaubliches, unwiederholbares Experiment gestartet. Ich darf mich doch mit grundsätzlichen Fragen beschäftigen wie der, woher wir alle kommen. Die Evolution hat alle lebendige Materie geprägt, ja: gemacht.
In den USA bekämpfen „Kreationisten“ die Evolutionstheorie unter Berufung auf die Schöpfungsgeschichte. Sehen Sie das mit Sorge?
Ja. Solche Ideen sind gefährlich, dumpf und ein Rückschritt ins Mittelalter. Man kann den Kreationismus auch schlecht diskutieren, weil er dogmatisch ist.
Hat der Kreationismus in Europa auch eine Chance?
Nein, das glaube ich nicht. Wir sind hier kulturell weiter. Solche Erscheinungen haben wir in Europa nie gehabt, seitdem wir uns aus der Scholastik befreiten.
Ist eine Evolutionsgenetik à la Jurassic Park die Zukunft? Auch für die Riesenrappenantilope soll es Pläne geben, sie mit Hilfe von altem DNA-Material zurückzuzüchten.
Nein. Wir wollen Sachverhalte beschreiben und nicht verändern. Gegenwärtig wäre das auch noch viel zu kompliziert. Wir beschäftigen uns im Institut zwar auch mit Reproduktionsmethoden wie künstlicher Besamung oder Embryotransfer, aber das ist sehr problematisch. Artenschutz muss bis auf weiteres darauf basieren, Biotope zu erhalten.
Aber theoretisch könnte das Züchten von Tieren aus alten Zellen irgendwann möglich sein?
Sagen wir: Die Vorstellung ist visionär. Ich denke schon, dass sich kommende Generationen damit auseinander setzen müssen. Und wir arbeiten in gewisser Weise ja schon vor: Indem wir Material in Tiefkühltruhen einlagern und nicht in verstaubte Schränke. Es ist ja auch ein großes Geschenk, was uns die Evolution da macht.
Das Wissenschaftler auch heute schon nutzen, indem sie Ideen der Natur kopieren.
Richtig. Beispielsweise haben Vampirfledermäuse ein Enzym entwickelt, um beim Wirtstier die Blutgerinnung zu hemmen. Heute ist moderne Medizin ohne solche Enzyme nicht mehr denkbar. Und die Natur steckt voller solcher Dinge. Diese „Arche“ ist nicht nur eine romantische Vorstellung, sondern für uns Menschen ein essenzielles Instrument.
Gehen Sie eigentlich regelmäßig rüber in den Tierpark zu Ihren Forschungsobjekten?
Ich bin ja mehr so ein Laborfuzzi. Am liebsten stehe ich an den Apparaten und zähle Gensequenzen. So seltsam das klingt, ich kann mich dafür begeistern.