Zu spät für ein Urteil
: Kommentar von Erich Rathfelder

Vielleicht wird das fehlende Urteil im Prozess gegen Milošević zur Hypothek. Wahrscheinlich sogar. Den Angehörigen der Opfer der Massenmorde ist die Satisfaktion genommen. In Serbien werden Mythen erhalten bleiben. Milošević präsentierte sich in Den Haag so, als sitze er für die gesamte Nation auf der Anklagebank. Eine Kollektivschuld gibt es zwar nicht, doch mit seinem Tod wird es jetzt schwerer, die Schuld an den Massenmorden und ethnischen Säuberungen zu individualisieren.

Dass ein Urteil vor seinem Tod nicht zustande kam, hat trotz der Dementis von Chefanklägerin Carla del Ponte das UN-Tribunal in Den Haag zu verantworten. Über vier Jahre zog sich der Prozess hin. Milošević gelang es lange Zeit sogar, den Prozess als Propagandabühne zu nutzen. Nach dem Durcheinander bei der Zeugenauswahl fiel es schwer, eine Strategie der Prozessführung der Anklage zu erkennen. Der sich selbst verteidigende Milošević nutzte jede Chance, den Prozess zu verzögern.

Sicher: Das UN-Tribunal hatte vorher kaum Erfahrung mit solchen Prozessen. Und es ist ehrenwert, darauf hinzuweisen, dass es nicht nur um die Verurteilung des Präsidenten Serbiens ging, sondern auch um die Wahrheit über die Ereignisse in Exjugoslawien.

Doch der Prozess gegen Milošević ist nicht der einzige. Es gibt über 100 andere Anklagen. Es müssten eigentlich noch viel mehr sein. Das Argument mit der Wahrheit wird schief. Denn die liegt im Gesamtbild und hängt nicht nur von diesem einen Prozess ab. Anstatt so viel Energie auf Milošević zu verwenden, hätte es dem Tribunal gut angestanden, die Anstrengungen zur Ergreifung der noch flüchtigen Kriegsverbrecher zu verstärken.

Das Gericht tat sich zudem schwer, Beweise für die direkte Einflussnahme Milošević’ auf die Verbrechen in Kroatien, Bosnien und im Kosovo zu finden. Das ist umso bedauerlicher, als den einschlägigen Geheimdiensten die Abhörprotokolle vorliegen dürften. So haben auch die Regierungen ihre Verantwortung. Und dennoch: Die Zeugenaussagen haben die Schuld des Angeklagten belegt. Er hätte im Sommer mit einer lebenslangen Haftstrafe rechnen müssen. Sein Tod hat die Verurteilung verhindert.