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Archiv-Artikel

New Day Rising

Ein schönes, an die Romane von Irvine Welsh und James Kelman erinnerndes Buch über die Schäbigkeit der Welt: „Millie“, der Debütroman der jungen britischen Autorin Helen Walsh

von MAIK SÖHLER

Von Beginn an prägend ist der Gegensatz von „schön“ und „schäbig“. Gleich auf den ersten Seiten von Helen Walshs Romandebüt „Millie“ angelt sich die schöne Millie O’Reilley im heruntergekommenen Liverpooler Stadtteil Toxteth eine „Nutte“, mit der sie es auf dem nahe gelegenen Friedhof treibt. Ihr Bewusstsein, zum ersten Mal als „Freier“ aufzutreten, sowie reichlich Koks, Speed und Alkohol steigern ihre Wahrnehmung der Umgebung ins Unermessliche, Fantastische, Glückselige. Nur der „Gummigeruch“ aus der minderjährigen „Fotze“ vor ihr auf einer Grabplatte bringt sie wieder auf den Boden.

Helen Walsh wählt wechselnde Erzählperspektiven, um ein literarisches Psychogramm ihrer Protagonistin Millie zu erstellen. Mal berichtet die 19-Jährige selbst von ihrem Alltag zwischen Universität, Vollsuff, ihren Freunden, den Drogenexzessen, dem intellektuellen Vater und dem schnellen Sex. Mal erzählt ihr langjähriger und bester Freund Jamie, der gerade kurz davor ist, zu heiraten, wie es Millie gerade so geht. Er kann ihre Umtriebigkeit schon länger nicht mehr verstehen, bleibt aber solidarisch: „Die hat sie doch nicht alle, das Mädchen. Keine Ahnung, was in die gefahren ist. Ist fast so, als dürfte es bei ihr einfach nicht zu glatt und zu problemlos laufen.“

Denn Millies Ausfälle häufen sich. Von ihrem Vater mit reichlich Geld ausgestattet – die Mutter hat das Elternhaus in Millies Pubertät verlassen –, zieht sie immer häufiger schon mittags die Kneipe dem Literaturseminar vor. Abends bleiben fällige Hausarbeiten liegen, weil die Suche nach einer Prostituierten, die auch Frauen bedient, alle Zeit in Anspruch nimmt. „Nutten“ erregen sie wie sonst nur Kokain: „Zum Teil, weil ich meine Identität als Frau gegen die Identität des Freiers getauscht hab, aber hauptsächlich, weil es mir die Tatsache bewusst macht, dass sie eine Nutte ist. Eine Frau, die darauf eingestellt ist, ihren Körper auszuliefern, und es zulässt, dass ich mich auf jede egoistische Weise, die mir gefällt, mit ihr amüsiere.“

Doch Millie rutscht nie ganz ab. In ihr schimmert noch etwas vom Sinn für die Schönheit des Hedonismus, der manchmal aus all dem Schäbigen erwächst, das sie umgibt und anzieht: „Ich gehe Richtung Kathedrale, ergriffen von der vor mir liegenden Nacht.“ Zusammenbrüche, Geschlechtskrankheiten und die späte Erkenntnis der Gründe für den Weggang der Mutter erschüttern sie, schaffen es aber nicht, sie zu brechen. Das liegt an ihrer Freundschaft mit Jamie, der Walsh durch äußere Umstände reichlich Spannung gibt und sie damit faszinierend vielschichtig erscheinen lässt. Und es liegt an Millie selbst, die aus dem um sich greifenden Elend wieder und wieder neues Selbstbewusstsein schöpft: „Trotz der feuchten Kühle des frühen Wintermorgens bin ich von Euphorie erfüllt. Heute ist ein neuer Tag.“

Irgendwann droht „Millie“ schließlich in rührselig-deterministische Besinnungsprosa über eine zerstörte Kindheit und die schweren Folgen abzudriften. Doch Walsh bekommt gerade noch den Bogen und lässt ihre zwischen Heldin und Antiheldin changierende Hauptfigur die Flucht nach Schottland antreten. Das passt ganz gut. Denn die junge britische Schriftstellerin ist mit dem, was sie zu erzählen hat, und ihrer Art, darüber zu schreiben, den Schotten Irvine Welsh und James Kelman (den sie einmal liebevoll erwähnt) recht ähnlich. „Millie“ ist ein schönes Buch über die Schäbigkeit der Welt.

Helen Walsh: „Millie“. Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 304 Seiten, 8,95 €