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Archiv-Artikel

berliner szenen Frierender Autodidakt

Erdbeeren mit Senf

Das Wetter ist schön, doch „schön“ ist relativ. Von unten nervt die kalt verschneite Hasenheide, von oben tröstet relativ viel Sonne. Da die um diese Jahreszeit schon relativ hoch steht, wirkt die Atmosphäre absurd: Das Licht singt ein völlig anderes Lied als der Arsch. Der friert. Ab. Es ist quasi warm und kalt zugleich. Ein Widerspruch, wie Erdbeeren mit Senf, den man sicher mit irgendeinem, mir bloß mal wieder unbekannten, Stilmittel benennen könnte – ein Paradoxon vielleicht, oder ein Contergan, oder eine Antigone? Was weiß denn ich – ich bin schließlich kein Germanist, ich bin Autodidakt.

Die Hasenschänke hat schnell reagiert, geöffnet und Stühle und Tische vor sich aufgebaut. Nun wartet sie auf Kundschaft – Studenten, Arbeitslose und andere Autodidakten. Ein paar arktische Sonnenanbeter sitzen schon da; ich hole mir an der Verkaufsluke Kaffee, heiße Erdbeeren mit Senf sowie ein warmes Sitzkissen.

Auf dem Zuckertütchen steht „Zucker“ in sieben verschiedenen Sprachen. Der Kaffee ist trotzdem kalt. In diesem Fall hat die Sonne den Kampf der Elemente verloren, oder der Gestirne – was weiß denn ich, ich bin doch Autodidakt. Ein Bier würde ich jetzt gern trinken, so wie der Mann hinter mir. Das würde die Strahlkraft der Umgebung ganz gewiss perfekt abrunden. Aber ich hab's mir verboten; ich muss noch was kritzeln, und das geht nur nüchtern. Schade, wäre ich Germanist, könnte ich das auch besoffen.

Weiter weg schreit irgendjemand ganz laut sinnloses Zeug. Irgendwer schreit ständig in Neukölln. „Hilfe, Hilfe!“, versucht der Schreihals die schöne Stimmung zu zerstören, „Hilfe – Polizei!“ So ein Idiot! Wenig später ist es zum Glück wieder still vor der Hasenschänke. ULI HANNEMANN