piwik no script img

Archiv-Artikel

Macht Taschengeld Kinder zu Materialisten?Ja

KONSUM Noch nie haben Kinder in Deutschland so viel Taschengeld bekommen wie heute. Erzieht sie das zum Sparen? Oder wollen sie mehr und mehr?

nächste frage

Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt.

Immer ab Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante

Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz.

www.taz.de/streit oder www.facebook.com/taz.kommune

Gerlinde Unverzagt, 53, ist Autorin von zahlreichen Erziehungsratgebern

Den Umgang mit Geld lernen Kinder nicht, indem sie es einfach ausgeben. Ist für das Notwendige gesorgt, können Kinder das Taschengeld für’s Überflüssige ausgeben: für Süßigkeiten, Plastikmist und Comichefte. Aus Angst, ein Wünschelchen könne unerfüllt bleiben, vergessen Eltern, dass Not und nicht Wohlstand erfinderisch macht. So leisten sie selbst bei knappen Kassen gehorsam wie einst der Bauer dem Fürsten pünktlich den Zehnten. Schließlich empfiehlt ja schon die Sparkasse, mit dem ersten Schuljahr die ersten Euros pro Woche fließen zu lassen. Wenn schon Sechsjährige versuchen, sich alles bezahlen zu lassen – vom Zimmeraufräumen über gute Noten bis zum Müll runterbringen – darf man sich nicht wundern, wenn Kinder mit der Verbissenheit von Gewerkschaftsbossen um Gehaltserhöhungen, Urlaubsgeld, Aufwandsentschädigungen und Inflationsausgleich feilschen.

Heidi Keller, 67, ist Professorin für Psychologie an der Universität Osnabrück

Taschengeld ist eine Erfindung der westlichen affluenten Mittelschichtsgesellschaft: Kinder sollen früh lernen, mit Geld umzugehen. Allerdings ist das Taschengeld nicht ohne Kontext zu bewerten. Ist es an die familiäre Situation angepasst, an den Entwicklungsstand des Kindes, an die Freunde, an alles zusammen? Ist es von Wohl- oder Fehlverhalten abhängig? Wofür soll und darf es ausgegeben werden? Diese Überlegungen entscheiden mit darüber, ob Taschengeld Kinder zu Materialisten macht. Eine Alternative zum Taschengeld könnte eine Gemeinschaftskasse sein, aus der sich die ganze Familie bedienen darf. So lernen Kinder, die Bedürfnisse anderer in das eigene Wunschrepertoire mit aufzunehmen.

Raphael Fellmer, 29, aus Berlin, lebt mit seiner jungen Familie im Konsum- und Geldstreik

Selbst Erwachsene können nicht mit Geld umgehen. Deshalb ist es eine zu große Verantwortung, Geld in Kinderhände zu geben. Kinder werden durch Werbung und durch ihre Umgebung verführt, sich Dinge zu kaufen, die schädlich für sie sind. Mit dem Taschengeld bereiten Erwachsene Kinder nur auf die Konsumgesellschaft vor. Sie lernen nicht, Konsum an sich infrage zu stellen, sondern dass man sich alles kaufen kann, wenn man nur genug Geld hat. Geld ist nur noch ein Medium, es fehlt die Beziehung zu Mensch, Tier und Natur, die im Produkt oder in der Dienstleistung steckt. So werden Nahrung und Dinge, die sie in der Natur, am Strand oder auf der Straße finden, uninteressant und wertlos für sie.

Nadine Groves, 38, ist taz-Leserin und hat unseren Streit per Mail kommentiert

Jede Generation hat ihre eigenen Herausforderungen. Für meine Kinder werden es der sinnlose Konsum und die Überfütterung mit Geschmacksverstärker- und Farbstoff-überdosierten Lebensmitteln sein. Kinder scheinen sich heute nicht mehr für irgend etwas anstrengen zu müssen. Für jede Kleinigkeit gibt es in Kindergarten und Schule Gummibärchen zur Belohnung. Zu jedem Anlass schenkt jeder irgend etwas. Meist gibt es nicht nur eine Schultüte, sondern zehn oder mehr, weil jeder meint, durch Geschenke seinen Wohlstand und seine Liebe zum Kind ausdrücken zu müssen. Kinder lernen, dass sie sowieso alles bekommen − sparen oder sich für Geld anstrengen lohnt nicht. Die Eltern kaufen alles, was erwünscht ist. Dazu kommt noch, immer mit den Nachbarn mithalten zu müssen. Meine Hoffnung ist, dass meine Kinder irgendwann angeödet sind und es als Herausforderung empfinden werden, sich von diesem Materialismus zu befreien.

Nein

Wolfgang Schäuble, 70, CDU, ist deutscher Bundesminister der Finanzen

Ein altersadäquates Taschengeld, mit dem Kinder in die Lage versetzt werden, den Wert von Dingen und Arbeit zu begreifen, macht kein Kind zum Materialisten. Im Gegenteil: Wenn Kinder feststellen, dass sie mit dem Euro aus ihrem Sparschwein die schwierige Wahl haben zwischen Karussellfahrt, Eis oder – wenn sie ein wenig sparen – Spielzeug, gewinnt dieser Euro eine neue Wertschätzung. Wenn man aktuellen Studien glauben mag, ist jedoch heute das Taschengeld unserer Kinder ein Milliardengeschäft, zum Teil weit entfernt von den empfohlenen Beträgen. So können gekaufter Status und Marke eine übergroße Bedeutung gewinnen und das Taschengeld eine ungute Rolle spielen. Im Endeffekt kommt es auch hier auf die Eltern an. Geben sie ein klares Leitbild vor, welches sich an Werten und Idealen orientiert, wird sich die Frage nach Materialismus nicht stellen.

Torsun Burkhardt, 39, ist Sänger der Berliner Electropunk-Band Egotronic

Nicht das Taschengeld macht Kinder zu Materialisten, sondern der gemeine Alltag im Kapitalismus, bei dem schon die ganz Kleinen spätestens ab der Grundschule an die brutale Logik der Konkurrenz herangeführt werden. Taschengeld kann für die Erziehung zur Selbstständigkeit innerhalb der bestehenden Verhältnisse sehr nützlich sein, ja, es ist fast unabdingbar. Hat das Kind Geld, kann es sich Dinge kaufen. Hat es zu wenig Geld, muss es sparen oder irgendetwas tun, um an mehr zu kommen. Ist die Kohle alle, sieht alles erst mal so richtig schön scheiße aus. Kurz: Das Kind lernt haushalten, und was könnte man ihm in einer Welt, die darauf ausgelegt ist, Mangel zu produzieren, Sinnvolleres mit auf den Weg geben? Das ist traurig, aber wir haben es ja nicht anders gewollt, oder?

Heinz Hilgers, 65, ist seit 1993 Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes

Durch Taschengeld lernen Kinder, verantwortungsvoll mit Geld umzugehen und sich Wünsche zu erfüllen. Es sollte ihnen zur freien Verfügung stehen. Die Erfahrung „Wenn ich am ersten Tag alles für Eis und Comics ausgebe, habe ich für den Rest der Woche nichts mehr!“ ist wichtig auf dem Weg zur Selbständigkeit. Die Höhe des Taschengeldes sollte mit den Kindern und Jugendlichen festgelegt werden, dabei spielt das Einkommen der Familie eine wichtige Rolle. Eltern sollten mit ihrem Kind möglichst offen über die finanziellen Verhältnisse sprechen und erklären, warum sie eventuell nur ein kleines Taschengeld zahlen können. Wir empfehlen für Kinder bis neun Jahre wöchentlich etwa 1 bis 3 Euro. Für Zehn- bis Dreizehnjährige etwa 14 bis 22 Euro monatlich, jährlich ansteigend, für Sechzehnjährige etwa 35 Euro.

Diana Bartl, 34, gründete das Projekt Schulschwein gegen Jugendverschuldung

Wer Taschengeld gibt, macht sein Kind nicht zwangsläufig zum Materialisten. Taschengeld zu bekommen bedeutet, selbstbestimmt mit Geld haushalten zu lernen und auch Enttäuschungen zu erleben. Wer früh mit kleinen Beträgen Erfolge und Fehler erlebt, wird später mit größeren Beträgen sensibler umgehen können. Wichtig ist, dass Eltern klare Regeln beim Taschengeld befolgen. So soll ein fester Betrag festgelegt werden, der dem Alter entspricht. Das Projekt Schulschwein arbeitet ganz bewusst nicht nur mit Geld. Kinder schreiben einen Wunsch auf einen Zettel und deponieren ihn im Sparschwein. Der dafür benötigte Betrag wird im entsprechenden Fach angespart. Und über das Sparschweinfach „Gute Tat“ werden Kinder an soziales Engagement herangeführt.