: Die USA sind reformierbar
FORDERUNGEN Mit 18 automatisch in die Wählerlisten, ein Debattenfeiertag, ein neues Gesetz zur Wahlkampffinanzierung, die Sozial- und Umweltbewegung endlich zusammenbringen
■ 71, ist geborener Südstaatler. Der Umweltjurist war unter Jimmy Carter und Bill Clinton Umweltkoordinator im Stab des Präsidenten. 1982 gründete er unter anderem den berühmten Thinktank World Resources Institute in Washington. Als „Administrator“ der UN-Entwicklungsorganisation UNDP war Speth in den 90er Jahren der dritthöchste UN-Beamte.
VON JAMES GUSTAVE SPETH
Die Liste der Herausforderungen, vor denen die USA stehen, bildet eine einschüchternde Agenda. Es liegt auf der Hand, dass für eine solche Agenda eine weitsichtige und starke Regierung erforderlich ist, die effektive Maßnahmen initiieren kann.
Die übliche Diagnose lautet, dass die US-Politik und die Regierungsführung derzeit dysfunktional seien und dass Washington unter der Polarisierung der Parteien und der daraus resultierenden Handlungsunfähigkeit leide. Der Zustand der nationalen Politik in den USA ist jedoch weit schlimmer, als die Diagnose des Stillstands vermuten lässt. Ein Blick auf die letzten Jahrzehnte offenbart, dass Washington tatsächlich in hohem Maße erfolgreich und effizient bei der Erfüllung bestimmter Interessen und Ziele war. Beispielsweise gelang es Washington, für einen immensen Transfer des Nationaleinkommens von der Mittelschicht zu den sehr Reichen zu sorgen.
Michael Waldman, Direktor des Brennan Center for Justice, einer der Schlüsselorganisationen für Reformen, drückte es so aus: „Die Progressiven müssen sich mit dieser zentralen Wahrheit auseinandersetzen: Wir können die Probleme des Landes nicht lösen, wenn wir die Systeme der Demokratie nicht in Ordnung bringen.“
Ein guter Anfang dabei ist, eine weitaus größere Zahl von Amerikanern dazu zu bringen, sich in die Wählerlisten eintragen zu lassen und wählen zu gehen. Etwa ein Drittel der Wahlberechtigten in den USA hat sich noch nicht einmal als Wähler registrieren lassen. Die ambitionierteste und auch die beste Möglichkeit, die Wählerregistrierungen zu erhöhen, wäre die automatische Registrierung aller Bürger bei Vollendung ihres 18. Lebensjahres.
Des Weiteren brauchen die USA eine raffinierte Kombination aus Kleinspenden und öffentlicher Wahlkampffinanzierung. Unrealistisch? Das glaube ich nicht. Der im April 2011 in den Kongress eingebrachte Gesetzentwurf zur Wahlkampffinanzierung (Fair Elections Now Act) sieht genau diesen Ansatz für die Kongresswahlen vor und wird von zahlreichen Abgeordneten im Repräsentantenhaus und im Senat unterstützt. Diverse Bundesstaaten, unter anderem Connecticut, Arizona und Maine, haben diesen Ansatz mit guten Ergebnissen umgesetzt.
Die Alternative ist eine Orgie undurchschaubarer Verschränkungen von Geld und Macht. Michael Waldman, Direktor des Brennan Center for Justice, kam zu der Schlussfolgerung: „Unser Wahlkampffinanzierungssystem ist wohl das schlimmste der westlichen Welt.“
Wie schlimm ist schlimm? Im Jahr 1996 wurden für alle Wahlkämpfe auf US-Ebene 2,1 Milliarden Dollar ausgegeben. Nur zwölf Jahre später, 2008, war diese Summe auf den Rekordwert von 5,3 Milliarden Dollar angewachsen. Dieses Geld kommt von einem winzigen Teil der Bevölkerung der USA. Mehr als 80 Prozent der Spenden für Wahlkämpfe auf US-Ebene wurden 2008 gerade mal von einem Prozent der Bevölkerung geleistet. Fast die Hälfte aller Wahlkampfspenden kam in dem Jahr aus fünf Wirtschaftssektoren.
Mit dem Fair Elections Now Act würden die Kongresswahlen hingegen durch einen Mix aus kleinen Spenden und öffentlichen Mitteln finanziert. Beispiel Repräsentantenhaus: Voraussetzung für die Wahlkampffinanzierung ist, dass die Kandidaten sich verpflichten, während des gesamten Wahlkampfs nur Spenden von jeweils maximal 100 US-Dollar anzunehmen und dass sie mindestens 1.500 Spenden von Bürgern ihres eigenen Wahlkreises bekommen. Für jeden US-Dollar aus Kleinspenden erhalten sie dann fünf Dollar aus dem Fair-Election-Topf – wobei für die Wahlen zum Repräsentantenhaus eine Obergrenze von 1,125 Millionen US-Dollar vorgeschlagen wurde.
Außerdem reicht eine Wahlrechtsreform, so wichtig sie auch sein mag, allein nicht aus. Wir sollten die Bewegung für eine deliberative, beratende Demokratie stärken, auch Bürger- oder Zivilgesellschaft genannt.
Obwohl die meisten Bemühungen um die Förderung einer deliberativen Demokratie bisher auf lokaler Ebene stattfinden, liegen auch interessante Vorschläge vor, sie auf die nationale Ebene zu übertragen. Beispielsweise haben Bruce Ackerman und James S. Fishkin mit dem „Deliberation Day“ (Diskurstag) einen neuen landesweiten Feiertag vorgeschlagen, „der jeweils zwei Wochen vor den US-Wahlen stattfinden soll. An diesen Tagen würden eingetragene Wähler in Nachbarschaftszentren zusammenkommen und in Gruppen die wichtigsten Wahlkampfthemen diskutieren. Jeder Diskursteilnehmer würde 150 US-Dollar für sein bürgerschaftliches Engagement an diesem Tag erhalten.“
■ Vorschläge Organisationen aller Art erarbeiten laut Gus Speth viele gute Vorschläge, um die Probleme der USA anzugehen: Umweltschutz, mehr Beteiligung der Reichen an den Staatsaufgaben, Gesundheitssystem, Bildung, weniger Militarismus. Allein: Die Erfahrungen mit den titanischen Kräften des amerikanischen Kapitalismus würden zeigen, dass die Ansätze der NGOs nicht zum Erfolg führen.
■ Was also zunächst tun? Die Demokratie von unten nach oben reformieren. Ansätze gebe es schon viele in den USA. Und eine Umfrage aus dem Jahr 2009 zeigt zum Beispiel, dass zwei Drittel der Amerikaner ein öffentlich finanziertes System für Wahlen befürworten anstatt des bisherigen Spendenwettrennens.
■ Das Buch „Der Wandel ist machbar: Manifest für ein neues Amerika“ erscheint am 30. September im Oekom Verlag München, hat 272 Seiten und kostet 19,95 Euro.
Für die Stärkung der politischen Diskussion gilt es auch Brückenorganisationen aufzubauen: Den amerikanischen Durchschnittsbürgern stehen keine geeigneten Mittel mehr zur Verfügung, um Themen anzusprechen und zu analysieren, ihre Interessen durch wirksame Bündnisse zu vertreten.
Jenseits der Gewerkschaftsbewegung setzen hier viele ihre Hoffnung auf die „digitale Demokratie“. MoveOn hat dies auf jeden Fall getan und die aktuelle Initiative Rebuild the Dream (www.rebuildthedream.com) ist ein weiteres gutes Beispiel für den Aufbau einer Bewegung.
Was bis jetzt noch nicht existiert, und was nun dringend aufgebaut werden muss, ist eine fortschrittliche Gemeinschaft, die alle progressiven Gruppierungen vereint. Beispielhaft ist die Kluft, die zurzeit zwei größere progressive Gemeinschaften voneinander trennt: die Linksliberalen, die sich auf Themen wie soziale Gerechtigkeit, Arbeitnehmerrechte und Arbeitsplätze konzentrieren, und meine Sippschaft der Umweltschützer. Sie engagieren sich in der Regel jeweils für eines der beiden Anliegen. Dabei sind sie aufeinander angewiesen, um ihre Ziele zu verwirklichen.
Der Text fasst das vierte Kapitels des Buchs (siehe Spalte links) von James Gustave Speth zusammen.