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Archiv-Artikel

Heimspiel im Feindesland

„Die Nationalmannschaft muss sich unseren Respekt erst wieder verdienen.“

AUS DORTMUNDHOLGER PAULER

Am Abend war der Ärger vergessen. Aus den Kneipen dröhnten Freudengesänge. Das Dortmunder Thier Pils floss in Stößchen. „Wir sind vor allem Borussenfans“, sprudelte es im bierseligen Rausch aus den Schwarz-Gelben heraus. 70.000 sahen am Samstag die Bundesligapartie im Westfalenstadion. Ganz Fußball-Dortmund feierte anschließend den überlegen, aber knappen 2:1-Sieg des BVB über Kaiserslautern. Vergessen Jürgen Klinsmann, vergessen, dass heute in Dortmund ein Länderspiel gegen die USA stattfindet: das letzte Heimspiel vor der Weltmeisterschaft.

80 Tage vor Beginn der WM ist in Dortmund von Vorfreude oder Aufbruchstimmung vor Beginn der WM nichts zu spüren: „Von uns werden am Mittwoch keine 20.000 da sein“, so ein Mitvierziger, der sich „Urborusse“ nennt. „Nur der BVB, danach kommt lange nichts.“ Mit dieser Meinung steht Urborusse nicht allein. „Die Bundesliga beschäftigt mich momentan viel mehr als so ein verkacktes Länderspiel einer gesichtslosen Nationalelf“, ist im Internet-Forum „schwatzgelb“ zu lesen. Klinsis Buben stehen in Dortmund nicht mehr hoch im Kurs, seitdem der Bundestrainer den Borussenkapitän Christian Wörns aus dem Kader geschmissen hat.

Auch am Samstag stürtzte sich nur ein einziger Fan in schwarz-rot-goldener Ganzkörpermontur in die Menge. Wackelig auf den Beinen lallte er in einer Kneipe den „Deutschland“-Roar – und erntete nur ratlose Blicke. „Willst Du das rot von deiner Fahne nicht lieber abschneiden?“ Später outete sich der Einzelgänger als Fan von Arminia Bielefeld. Der Mann war auf der völlig falschen Feier. Im doppelten Sinne.

Zuvor im Westfalenstadion ging es noch etwas ungemütlicher zu. „Klinsmann raus!“ schallte es zu Beginn des Spiels durch das Rechteck. Laut und ausdauernd – trotz der Nominierung von Mittelfeldspieler Sebastian Kehl und BVB-Bankdrücker Christoph Metzelder. Jürgen Klinsmann hockte derweil auf der Ehrentribüne und hielt sich verkrampft an seinem Mobiltelefon fest. BVB-Stadionsprecher Norbert Dickel hatte auf Anraten der Vereinsführung darauf verzichtet, die Anwesenheit Klinsmanns über die Stadionlautsprecher anzukündigen. So blieb der Sprechchor die einzige verbale Attacke gegen den Chef der Nationalmannschaft. Ein paar verlorene Plakate und vereinzelte „Christian Wörns“-Rufe konnten die trügerische Nachmittagsruhe nicht mehr stören. Der befürchtete Knall blieb aus.

„Wir sind in einer heißen Phase“, sagte Klinsmann am Montag. In der Tat. Und da können die Gemüter schon ein wenig Beruhigung vertragen. Mit den oben angesprochenen Sebastian Kehl und Christoph Metzelder werden zwei Borussen in der Startformation stehen. Eine sportliche Entscheidung? Dass Metzelder derzeit bei Borussia Dortmund nur auf der Bank sitzt, nimmt Klinsmann für die WM in Kauf: „Bei uns spielt er eine wichtige Rolle, weil er eine wichtige Persönlichkeit ist, die der Hintermannschaft ein Gleichgewicht geben kann.“ Die BVB-Fans reagieren allerdings mit Unverständnis auf die Nominierung. „Metzelder spielt? Ich dachte der ist seit Wochen verletzt.“

Wie groß die Angst in der Führungsetage des deutschen Fußballs wegen des Krachs um Wörns gewesen sein muss, zeigt das Verhalten der Verantwortlichen. In der vergangenen Woche reiste Theo Zwanziger, Präsident des einst allmächtigen Deutschen Fußballbundes (DFB), höchstselbst ins Westfalenland und suchte den Dialog mit den Fans. Der Präsident des mächtigsten Sportverbandes der Welt auf Tuchfühlung mit dem Fußvolk. In der Vergangenheit hätten die DFB-Bosse eine derartige Situation in absolutistischer Manier ausgesessen und totgeschwiegen. Dieses Mal knickte Zwanziger ein. Er sprach sich sogar gegen ein Verbot von Anti-Klinsmann-Plakaten aus. Das gehöre ja zur „Meinungsfreiheit“. Und zumindest ein Teil der Fans reagierte positiv. „Wir wollen die Wende einleiten: Später sollen alle sagen, dass Dortmund der Ausgangspunkt für eine erfolgreiche WM war“, erklärte Olaf Suplicki, Vorsitzender der BVB-Fanabteilung. Einige Gesprächsteilnehmer sprachen sogar vom „Westfälischen Frieden“.

Dem Frieden scheinen sie beim DFB trotzdem nicht zu trauen. Die Pressekonferenz vor dem USA-Spiel findet in Düsseldorf statt. „Das hat ausschließlich logistische Gründe“, so ein DFB-Sprecher. Schließlich wohne die Nationalmannschaft ja auch in Düsseldorf. Auch aus logistischen Gründen? „Natürlich hätten wir die Spieler gerne vor Ort gehabt“, heißt es aus der Stadt Dortmund. Aber jetzt freue sich die Stadt halt auf das Spiel.

„Schwachsinn“, sagt Norbert G. Er geht seit mehr als 30 Jahren zum BVB. Auch als die Borussen drei Jahre in der zweiten Liga spielten, war er dabei. „Die Nationalmannschaft, vor allem der Trainer, muss sich unseren Respekt erst wieder verdienen.“ Und das ausgerechnet in Dortmund, wo das DFB-Team in der Vergangenheit regelmäßig auftrumpfte. 2003 wurde hier Schottland in der EM-Qualifikation vorentscheidend mit 2:1 besiegt. Zwei Jahre zuvor gab es in den Relegationsspielen zur Fußballweltmeisterschaft 2002 ein überragendes 4:1 gegen die Ukraine. Das Westfalenstadion wurde zur Kultstätte der Nationalelf hochgejubelt. Auch Borussen-Fan Norbert kann sich noch an die guten alten Zeiten erinnern: „1977 beim Länderspiel gegen Wales rief das halbe Stadion ‚Borussia für Deutschland‘“. Das Spiel endete übrigens 1:1. Zur Entschuldigung der Lokalpatrioten sei gesagt: Nationalspieler in schwarz-gelb waren damals eher dünn gesät. Und das lag nicht an Bundestrainer Helmut Schön.

Heute Abend wird es dennoch voll werden. Béla Rethy wird sich für das ZDF aus dem „rappelvollen Sinal Iduna Park“ melden. Die FIFA erlaubt bei Länderspielen zwar nur Sitzplätze. 67.000 Zuschauer haben in Dortmund dennoch Platz. Gut 50.000 Karten gingen bereits weg – die meisten in die Nachbarstädte oder ins Umland. Zehn Erst- oder Zweitligisten kicken im Umkreis von 100 Kilometern. Mehrere hunderttausend Fußballverrückte pilgern jedes Wochenende in die Stadien. Doch Länderspiele sprechen nur einen Bruchteil der Fans an. Die Bindung zum Verein ist größer. Auch in Dortmund.