Heilsamer Blick nach Westen : KOMMENTAR VON LUKAS WALLRAFF
In Frankreich reden derzeit alle vom Kündigungsschutz, es herrscht sogar Revolutionsstimmung. In Deutschland lockt das Thema dagegen niemanden hinterm Ofen hervor. Eigentlich ist das paradox. Denn die Regierungspläne sind in Deutschland noch drastischer als in Frankreich. Während von der Einschränkung des Kündigungsschutzes dort nur junge Leute bis 26 betroffen sind, soll hier künftig jeder zwei Jahre lang auf Probe jobben. So hat es die große Koalition beschlossen, ohne dass sich großer Protest regte. Mit unterschiedlichen Traditionen und Temperamenten allein lassen sich die unterschiedlichen Reaktionen in den Nachbarländern aber nicht erklären.
Die gelassene Diskussion über den Kündigungsschutz in Deutschland zeigt vor allem, wie gut die PR-Arbeit der Kanzlerin funktioniert. Was Union und Sozialdemokraten zu Beginn ihrer Regierungszeit vereinbart hatten, verkaufte Angela Merkel als Politik der „kleinen Schritte“. Und so wurde es auch wahrgenommen. Im Vergleich zu Merkels Radikalrhetorik aus dem Wahlkampf wirkte der Koalitionsvertrag tatsächlich wie ein großes Zugeständnis der Union an die SPD und an den Wunsch der Bevölkerungsmehrheit nach höchstens maßvollen Reformen. Selbst Unionspolitiker sprachen von einer „Sozialdemokratisierung“ ihrer Partei, fleißig beklatscht von den echten Sozialdemokraten.
Nur auf der Grundlage verbaler Zurückhaltung und Bescheidenheit konnte sich Merkel als Mutter der Nation inszenieren – und trotzdem mehr durchsetzen als die Konservativen, die in Frankreich allein regieren. Erst der Blick über die Grenze rückt nun die Maßstäbe zurecht.
Niemand kann belegen, dass die Aufhebung des Kündigungsschutzes Arbeitsplätze schafft. Sicher ist nur, dass künftig noch mehr Arbeitnehmer in Unsicherheit leben müssen.
Langsam fällt der Etikettenschwindel auf, den die Regierung in ihrer harmonischen Wohlfühlkoalition betreibt. Denn was für Merkel kleine Schritte sind, bedeutet für Millionen Menschen drastische Einschnitte: Rente ab 67, Erhöhung der Mehrwertsteuer, Verschärfungen bei Hartz IV – wenn das „Sozialdemokratisierung“ sein soll, dann kann sich die SPD auflösen.