: Ein Problem namens Labbadia
EUROPA LEAGUE Vor dem heutigen Spiel gegen Standard Lüttich kriselt es beim Hamburger SV. Wieder einmal droht der Traditionsverein an eigenen Ansprüchen zu scheitern, die kontinuierliches Arbeiten verhindern
HAMBURG taz | Heute kann der Hamburger SV einen großen Schritt zum ersten Titel seit 23 Jahren gehen. Und selbst wenn das nicht klappen sollte: Der sechste Tabellenplatz, den der HSV in der Bundesliga aktuell belegt, wird höchstwahrscheinlich zur erneuten Teilnahme an der Europa League reichen. Klingt nach einer ganz komfortablen Situation. Eigentlich.
Stattdessen diagnostiziert die Boulevardpresse vor dem Viertelfinalspiel gegen Standard Lüttich „Endzeit-Stimmung“ und präsentiert mit wachsender Lust am Untergang entnervte Spielergesichter und Wechselgerüchte. In seltener Einigkeit geben alle der Krise den gleichen Namen: Bruno Labbadia.
Das ist der Mann, von dem HSV-Präsident Bernd Hoffmann noch vor kurzem sagte, er sei „das Beste, was dem HSV passieren konnte“, und zu dem ihm jetzt nur noch windelweiche Bekenntnisse über die Lippen kommen. Selten wurde in so rasender Geschwindigkeit aus einem Messias der Prügelsack, auf den alle eindreschen dürfen. „Ich kann es ja nicht ändern. Die Situation ist nun mal so“, sagte Labbadia gestern – und die Ratlosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Richtiges Vertrauen genoss dieser Trainer in Hamburg nie. Schon als Tabellenführer am Anfang der Saison wurde permanent daran erinnert, dass Labbadia auch an seinen vorigen Stationen in Fürth und Leverkusen nach starkem Beginn schnell ins Mittelmaß abstürzte. Wie er in Leverkusen seinen Abgang provoziert und die Mannschaft im Pokalfinale allein gelassen hatte, das weckte zudem Zweifel an seinen charakterlichen Eignung.
Ob die späte Auswechslung des verletzten Jerome Boateng beim Hinspiel gegen Mönchengladbach oder die verfrühte des verärgerten Ruud van Nistelroy beim Rückspiel letztes Wochenende – jeder Fehler des Trainers wurde mit einem vielstimmigen „Haben wir es doch schon immer gewusst“ begleitet. Eine schlechte Rückrunde haben aber auch Labbadias Vorgänger Stevens und Jol hingekriegt.
Das Problem liegt tiefer. Seit den großen Zeiten Anfang der 80er-Jahre fühlen sich die Rautenträger auch ohne Titel dem Hochadel des deutschen Fußballs zugehörig. Die große Sehnsucht danach, endlich tatsächlich wieder einen Thron zu besteigen, führt Jahr für Jahr zu kurzatmigen Gipfelstürmereien. „Kontinuität“ – kein Wort nahm Bernd Hoffmann bei der Vorstellung von Labbadia öfter in den Mund. Aber genau diese Kontinuität und ein langsamer Aufbau werden Mannschaft und Trainer nicht zugestanden, die zudem seit Monaten ohne einen Sportdirektor auskommen müssen.
„Gestern war die Mannschaft wieder mit Überzeugung und Begeisterung dabei. Das hat uns in der ersten Zeit hier ausgezeichnet“, versuchte Labbadia gestern seine Anfangserfolge beim HSV zu beschwören. So werden in Hamburg immer wieder die alten Siege gefeiert, und der Glaube an neue nach Rückschlägen schnell zu Grabe getragen. Oder wie es Fan Buschi in einem Internetforum ausdrückt: „Ich wollte kein HSV Fan mehr sein, aber dass ist leider angeboren und kann niemals abgelegt werden.“ RALF LORENZEN