Sie benutzen seine Argumente

RACE 250.000 Bürgerrechtler marschierten vor 50 Jahren für den Traum von Martin Luther King nach Washington. Am Samstag wollen sie es wieder tun

AUS WASHINGTON DOROTHEA HAHN

Posthum ist er ein parteiübergreifendes nationales Heiligtum. Martin Luther King. Schulkinder lernen seinen Traum auswendig. Ausschnitte aus seiner berühmten Rede sind ins Martin Luther King Memorial gemeißelt. Demokraten und Republikaner beziehen sich auf ihn.

Aber die „Race-Debatte“ in den USA ist keineswegs Geschichte. Der Alltag der Afroamerikanern bleibt von Diskriminierung geprägt. Und manche sozialen Verhältnisse haben sich seit 1963 kaum verbessert. Etwa die Arbeitslosenquote. Sie lag im Jahr 1963 bei 5 Prozent für weiße und bei 10,9 Prozent für schwarze Amerikaner. Heute beträgt sie 6,6 Prozent für Weiße und 12,6 Prozent für Schwarze.

Im Jahr 1963 ist Kings Traum ein Albtraum für das offizielle Washington. Präsident John F. Kennedy versucht, den Veranstaltern den „March on Washington for Jobs and Freedom“ auszureden. Als das nicht gelingt, verlangen die Behörden, dass er an einem Wochentag stattfindet. Washington ist im Ausnahmezustand, Keine Ballspiele. Kein Alkoholverkauf. Die Räume der Gefängnisse leer. Die Truppen ziehen sich auf der anderen Seite des Potomac zusammen. In der Tonanlage wird ein „Kill-Switch“ installiert: Sollte ein Redner zum Aufstand aufrufen, will man das Mikrofon abklemmen und den Gospel „He’s got the whole world in his hand“ von Mahalia Jackson spielen.

250.000 Menschen kommen zur Demonstration. Viele haben ihren Heimatort zum ersten Mal verlassen. Bei der Einfahrt nach Washington jubeln ihnen schwarze Vorstadtbewohner zu. Die USA des Jahres 1963 sind ein segregiertes Land. Die Sklaverei ist seit 100 Jahren abgeschafft. Aber im Süden dürfen Schwarze nicht in dieselben Schulen und Parks wie Weiße gehen. Dürfen nicht aus denselben Brunnen trinken. Dürfen nicht wählen. Und verdienen – wenn sie überhaupt Arbeit haben – nur einen Bruchteil des Lohns ihrer weißen Landsleute. Martin Luther King ist einer der Redner. Sein Thema: Polizeigewalt und andere Formen des Rassismus. Nach sechs Minuten legt er sein Manuskript zur Seite. Der 34-Jährige hat in dem Jahr bereits mehr als 300 Reden gehalten. Hat Boykotte organisiert, ist verhaftet worden. „Ich habe einen Traum“, sagt er. Es ist ein Traum von einem Tag, an dem sich die Nachfahren der Sklaven und die Nachfahren der Sklavenhalter verbrüdern.

Wenige Monate später beginnen die Jim-Crow-Gesetze, die die Segregation in Text gefasst hatten, zu fallen. Einige besonders hartnäckig rassistische Bundesstaaten werden unter Aufsicht Washingtons gestellt. Sie dürfen ihr Wahlrecht nur nach Prüfung ändern. Martin Luther King bekommt den Friedensnobelpreis, wird Vietnamkriegskritiker, plant die „Poor People’s Campaign“ für wirtschaftliche Gerechtigkeit, plant eine Besetzung von Washington und wird 1968 ermordet.

Bis heute sind Polizei und Justiz in den USA Orte der Diskriminierung. Afroamerikanische junge Männer machen mehr als zwei Drittel der Opfer von Personenkontrollen und Verhaftungen aus. Und obwohl der Drogengebrauch auf alle Bevölkerungsgruppen gleich verteilt ist, sind drei Viertel der wegen Marihuana Verhafteten Afroamerikaner. In der 2,5 Millionen großen Gefängnisbevölkerung der USA verkehren sich die Mehrheitsverhältnisse. Von der Gesamtbevölkerung der USA sind nur 14 Prozent afroamerikanisch, aber in den Gefängnissen sind es mehr als 40 Prozent.

Politisch haben die reaktionären politischen Kräfte, die in den 1960er Jahren an Macht und Einfluss verloren haben, nie aufgegeben. Jahrelang haben sie an neuen Gesetzen gebastelt, Sozialleistungen gekürzt, Quoten und spezielle Förderprogramme für benachteiligte Minderheiten angefochten. Und neue bürokratische Hürden für Wahlen eingeführt, die gezielt Afroamerikaner und Latinos treffen. Erfolg hatten sie damit vor allem auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene. Im vergangenen Juni erzielten sie allerdings auch einen zentralen Sieg vor dem Obersten Gericht: Die 1965 eingeführte Aufsicht des Justizministeriums über das Wahlrecht in einzelnen Bundesstaaten wurde kassiert.

Ein halbes Jahrhundert nach dem „March on Washington“ wollen an diesem Samstag Bürgerrechtsgruppen erneut am Schauplatz des historischen Ereignisses in der Mall demonstrieren. Sie protestieren gegen den Freispruch des Mannes, der Trayvon Martin, den unbewaffneten schwarzen Teenager, erschossen hat. Die Bürgerrechtler benutzen „Dr. King’s“ Argumente gegen Schusswaffen- und Selbstverteidigungsgesetze und verlangen soziale Gerechtigkeit.

Am kommenden Mittwoch, dem eigentlichen Jahrestag, wird auch die Spitze Washingtons zum Gedenken an den Traum auf die Mall gehen. Zumindest der demokratische Teil. Zwei Expräsidenten – Jimmy Carter und Bill Clinton – haben sich angemeldet. Und Barack Obama wird eine Rede halten. Der erste schwarze Präsident der USA wurde oft als politischer Erbe von „Dr. King“ beschrieben, hat aber in seiner ersten Amtszeit zum Thema Rassismus wenig gesagt. Das hat sich in diesem Jahr geändert. Obama hat über die besonderen Schwierigkeiten afroamerikanischer Jungen gesprochen. Es ist ein allmähliches Herantasten an ein Thema, das das Land spaltet.

sonntaz SEITE 24