: Als das Wolfskind unter die Menschen fiel
ERZÄHLUNG T. C. Boyle schlüpft in die Rolle eines wilden Jungen und erweist die Überlegenheit der Literatur über die Wissenschaft – „Das wilde Kind“
Der Schriftsteller T. C. Boyle hat sich schon früher für die vielfältigen Mischungsverhältnisse der beiden Antagonisten Natur und Kultur interessiert – in der psychischen Verfassung des Menschen, in seinen Liebesbeziehungen und in den gesellschaftlichen Ordnungsprozessen. Zuletzt im Erzählungsband „Zähne und Klauen“, wo er unter anderem eine Hundeverhaltensforscherin imaginiert, die sich absichtsvoll und mit einigem Erfolg selbst auswildert.
„Das wilde Kind“, die Titelgeschichte seines jüngsten Erzählungsbandes „Wild Child“, die sein deutscher Verlag hierzulande separat veröffentlicht, verhält sich komplementär dazu. Sie beschreibt den Versuch einer nachträglichen Sozialisation – eines sogenannten Wolfskindes. Es geht um den in der Geschichte der Anthropologie bekannten Fall des „Wilden von Aveyron“. Ende des 18. Jahrhunderts stoßen Bauern in den Wäldern von Südfrankreich auf einen nackten Jungen, der offenbar vor Jahren von seiner Familie ausgesetzt wurde, im Wald zu überleben gelernt hat und dabei zum Tier regrediert ist.
Rousseau oder Locke?
Victor, so nennt ihn sein späterer Lehrer – und Boyle spielt an auf die Ironie dieser optimistischen Namensgebung –, zeigt sich unsensibel gegen Kälte und Hitze, kann nicht sprechen, erkennt sein Spiegelbild nicht. Ein totales Naturwesen, ohne Schamgefühl, offenbar zu keiner höheren menschlichen Regung fähig. Man gibt ihn in die Obhut des jungen Arztes und Wissenschaftlers Itard, der ihn nun zu einem nützlichen Mitglied der Gesellschaft zu erziehen und dabei auch noch die zentrale Streitfrage der Aufklärungsphilosophie zu klären versucht: Ist der Mensch, wie es Rousseau konstatiert hat, nur im Naturzustand ganz rein und unverdorben und deformiert ihn später seine gesellschaftliche Existenz? Oder gelingt ihm eine Vervollkommnung, der Ansicht war John Locke, erst im Austausch mit dem Kollektiv, durch Erziehung und kulturelle Sublimation?
Itard hängt eher der Lehre Lockes an und versucht ihn zunächst körperlich zu sensibilisieren. Er verabreicht ihm warme Bäder und überantwortet ihn der zärtlichen Fürsorge einer Adoptivfamilie – und beginnt schließlich mit dem Unterricht. Nach vielen für beide Seiten meistens frustrierenden Jahren allerdings muss sich Itard sein Scheitern eingestehen. Victor lässt sich nur sehr bedingt akkulturieren und erlernt auch nur sehr rudimentäre Fähigkeiten zu kommunizieren. So erfährt die Gelehrtenrepublik leider nicht, wie es sich so lebt in völliger Unmittelbarkeit, undomestiziert, unreflektiert.
Aber wo die Wissenschaft endet, beginnt die Imagination des Literaten. Boyle schlüpft in die Rolle des wilden Jungen – und gibt so über die gut dokumentierte Fallbeschreibung hinaus eine Ahnung davon, was Victor verloren hat, als er unter die Menschen fiel. Hier zeigt sich nicht nur die Überlegenheit der Literatur gegenüber der Wissenschaft, hier offenbaren sich auch einmal mehr die erzählerischen Qualitäten dieses großen Autors.
FRANK SCHÄFER
■ T. C. Boyle: „Das wilde Kind“. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Hanser, München 2010. 106 Seiten, 12,90 Euro