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Archiv-Artikel

Endlich den Kragen platzen lassen

KOREANISCHES KINO Modernisierungsverlierer in einem sterilen Land voller unglücklicher Konsumtrottel: Das Arsenal ehrt den Regisseur Kim Ki-duk mit einer Retrospektive

Der Protagonist versagt sich den Zorn und ergibt sich der buddhistischen Selbstbescheidung

VON TILMAN BAUMGÄRTEL

Das Gefühl des Han ist dem koreanischen Nationalcharakter so eigen, dass der Begriff kaum zu übersetzen ist. Han ist eine hilflose Wut, die aus Ungerechtigkeit und Unterdrückung entsteht, gegen die man sich nicht wehren kann. Und die einen in eine brütende Resignation zwingt, aus der einen nur ein Akt der Rache befreien kann. Dieses Leiden ist derart körperlich, dass es in Korea als Auslöser von zahlreichen psychosomatischen Krankheiten gilt.

Als Grund für diesen ohnmächtigen Zorn werden oft die Zwänge einer Klassen- und Leistungsgesellschaft genannt. Eine andere Erklärung für Han ist die Geschichte eines Landes, das immer wieder von anderen Nationen kolonialisiert und erniedrigt wurde. Das kapitalistische Südkorea hat sich allerdings seit dem Koreakrieg (1950–1953) von einem bettelarmen Dritte-Welt-Land zu einer wohlhabenden Industrienation hochgearbeitet.

Das mag eine soziologische Erklärung sein für die unzähligen Wutbürger, die im südkoreanischen Kino der letzten Dekade Rot gesehen haben. Endlich ist man wer und kann ob Demütigungen und Ungerechtigkeiten den Kragen platzen lassen, statt still zu leiden.

Die Rache für erlittenes Unrecht ist in Filmen wie „Old Boy“ oder „I saw the Devil“ mit sadistischem Aplomb zelebriert worden. Die „revenge movies“ von Regisseuren wie Park Chan-wook, Na Hong-jin oder Kim Jee-woon mit ihrer speziellen Mischung aus fantasievoller Grausamkeit und tief empfundenem Selbstmitleid sind eine so spezifisch koreanische Angelegenheit, dass viele Kritiker sie als das wichtigsten Genre des südkoreanischen Kinos betrachten.

Auch die Werke von Kim Ki-duk, dem im September eine Retrospektive im Arsenal gewidmet ist, sind von dumpf brütendem Han geprägt, der sich oft in blutigen Gewaltexzessen entlädt. Seine Filme „legen die monströsen Widersprüche der koreanischen Leinwand-Männlichkeit offen, die zwischen äußerer Aggression und innerem Selbsthass hin- und hergerissen ist“, schreibt der Filmwissenschaftler Kyung Hyun Kim in seinem Buch „The Remasculinization of Korean Cinema“.

Im Kino von Kim Ki-duk sind es oft Modernisierungsverlierer, die am südkoreanischen Wirtschaftswunder nicht teilhaben, die so lange unter Han leiden, bis ihnen irgendwann die Sicherung durchbrennt. In seinem elegischen Film „Seom – Die Insel“ (2000) fügen sich ein kleiner Gauner, der sich auf einem Fischerboot vor der Polizei versteckt, und dessen dämonische Wirtin mit Angelhaken die physischen Verletzungen zu, die ihren seelischen Wunden entsprechen. Vor dem majestätischen Hintergrund eines herbstlichen Sees inszeniert Kim ein Kammerspiel, in dem – wie in allen seinen Filmen – kaum gesprochen werden muss, um die Qualen, die seine Figuren umtreiben, nachempfindbar zu machen.

Versöhnlicher ist der Film „Bin-Jip“ (2004) über einen Herumtreiber, der in leer stehende Häuser einbricht und dort die Wäsche macht, Blumen gießt und herumliegende Leichen begräbt. In einer von Han geprägten Welt (verkörpert durch prügelnde Ehemänner, Polizisten und Gefängniswärter) kommt man mit so einem menschenfreundlichen Lebensentwurf nicht gerade weit. Doch der Protagonist versagt sich den Zorn und ergibt sich der buddhistischen Selbstbescheidung, die in einem sterilen Südkorea voller unglücklicher Konsumtrottel in Vergessenheit geraten ist.

Kims autobiografischer Filmessay „Arirang“ (2011) ist Kino gewordenes Han. Nachdem eine Schauspielerin bei den Dreharbeiten seines Films „Dream“ (2008) fast umgekommen wäre, durchlitt der Regisseur eine Lebens- wie Schaffenskrise und verschanzte sich drei Jahre in einer voll gemüllten Berghütte. Dort filmte er mit Digitalkameras seine – von dem koreanischen Reisschnaps Soju beflügelten – Monologe und gewährt Einblick in sein überbrodelndes Innenleben: Freunde, die ihn verraten haben. Fehlendes Verständnis in Korea. Keine Kraft mehr zum Filmemachen. Schließlich bittere Tränen beim Ansehen seines Films „Frühling, Sommer, Herbst, Winter … und Frühling“.

Zwischendurch baut der Regisseur Espressomaschinen, in denen das Wasser so hochkocht wie seine eigenen Gefühle – bis der aufgestaute Druck sich in kleine Kaffeetassen entleert, die hastig weggeschlürft werden. Als das nicht mehr ausreicht, bastelt er sich einen Revolver und lässt mithilfe von drei Kugeln, die offenbar verräterische Kollegen treffen, Druck ab. So autobiografisch und unvermittelt ist Han und dessen Entladung noch in keinem Film zelebriert worden.

■ Retrospektive Kim Ki-duk: Arsenal, 1.–29. 9. Mehr unter www.arsenal-berlin.de