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Archiv-Artikel

Alles, was ein guter Liebhaber braucht

Mit seinen Produktionen gelingt Russell Maliphant die Verbindung aus Anmut und Komplexität. Jetzt ist der Londoner Choreograf mit seiner Company, die schon für herausragende Kollektivarbeit ausgezeichnet wurde, im HAU zu Gast

Es ist das Licht. Über das Licht und wie ungewöhnlich es die Körper moduliert, denkt man zuerst nach in den Tanzstücken von Russell Maliphant. Im Licht liegt eine unglaubliche Macht, den Körpern Geheimnis und Tiefe zu geben. Sie leuchten, die Haut strahlt Wärme und Weichheit aus.

Michael Hulls ist der Lichtdesigner der Russell Maliphant Company. Am Anfang von „Transmission“, dem ersten Stück des Gastspiels im Hebbeltheater, tauchen nur die Fingerspitzen von vier Tänzerinnen durch schmale Kanäle aus Licht. Man sieht sozusagen nur den Rand der Bewegung und spürt doch, dass dieses winzige Blitzen zu etwas Weitem und Tiefem gehört. Wie die Signale und Funkkontakte, die auf der akustischen Ebene – als Material aus dem offenen Audiopool eines acoustic.space.lab – einen weiten Horizont anreißen, so vermittelt auch jede Bewegung die Zugehörigkeit zu einem Fluss von Energie, der über den einzelnen Körper hinausgeht. Diesen Geist des Lebendigen, der in der Haut des Menschen nur einen seiner Wohnsitze hat, zu gestalten, ist das Besondere der Choreografien von Russell Maliphant.

Es ist ein guter Geist, der sichtbar wird. Er lebt von der Berührung und Kommunikation der Körper: vielgestaltig, wandelbar, anpassungsfähig. Wo er auf Hindernisse und Barrieren trifft, sucht und findet er andere Wege. Er ist sensibel, aufmerksam, wach. Er verfügt über alle Eigenschaften, die ein guter Liebhaber braucht. Oder der beste Mitarbeiter der Welt; oder ein Erfinder neuer technischer Lösungen.

Wo immer in „Transmission“ und später im Duo „Push“ Hände sich fassen, eine Hand auf eine Schulter trifft oder eine Hüfte streift, wo Rücken über Rücken gleiten, wo immer Gelenke sich berühren, finden sie zusammen gleich die neue Richtung, wissen, ob es um Halten, Stützen oder Ziehen geht. Selten sieht Perfektion so anmutig, harmonisch, so sehr nach etwas aus, das nur zusammen erbracht werden kann.

Die Londoner Company, die vor zehn Jahren gegründet und seit 2002 mit unterschiedlichen Preisen – unter anderem für „herausragende Kollektivarbeit“ – gewürdigt wurde, ist zum zweiten Mal im HAU-Komplex zu Gast. Maliphants Stücke scheinen Tanz pur zu sein, der weder Geschichten erzählt noch Kontexte behauptet. Dennoch ist seinen Formen viel vorausgegangen: Die Verschmelzung und Durchdringung von Bewegungselementen verschiedener Herkunft wurde erst möglich, weil deren Grammatiken sich von ihrem ideologischen Überbau befreien konnten.

Kontaktimprovisation, Yoga, Capoeira und Tai Chi: Alle diese Techniken haben sich aus kulturell unterschiedlichen Perspektiven entwickelt und sind sich doch in dem Ziel nahe, Energiequellen des Körpers aufzuschließen, die der Alltag allein nicht ausbildet. Sie werden von Maliphant mit dem Vokabular des Balletts zusammengebracht, dessen klassische Kompositionsformen er mehr nutzt als die meisten zeitgenössischen Choreografen. Dennoch ist das Ergebnis sehr gegenwärtig.

In gewisser Weise spiegelt die Entwicklung seiner Tanzsprache den technologischen Fortschritt. Es ist erstaunlich, wie sich durch das Zusammentreffen unterschiedlicher Bewegungstechniken das Spektrum ihrer Möglichkeiten erweitert hat. Die Punkte und Achsen, um die sich ein Körper und Teile von ihm drehen können, scheinen sich vervielfältigt zu haben. Die Linien, die die äußeren Extremitäten dabei in den Raum zeichnen, werden in ihrem Muster immer verschlungener und komplexer. Der Horizont, auf den sich diese Bewegungen beziehen, ist schon lange keine Waagerechte mehr; sondern so rund wie die Kugelform der Erde. KATRIN BETTINA MÜLLER

Russell Maliphant, noch heute Abend, 19.30 Uhr, HAU 1, Stresemannstraße 29