HIPPIES WIEDER DA
: Sommer der Liebe

Ein junger Mann predigt für sich selbst

Markttag am Maybachufer. Wenn man sich aus der Treptower Richtung nähert, thront, Ecke Hobrechtstraße, seit ein paar Jahren diese hölzerne Plattform über dem Kanal. Die Plattform ist, spätestens seit vergangenem Sommer, der Dreh- und Angelpunkt des Berliner Hippie-Wesens. Man hatte das während des Winters schon wieder vergessen. Aber jetzt ist der Winter vorbei, und von dem neu erstarkten Hippie-High-Life kann einem geradezu schummrig werden – vor allem, wenn man sich mit dem ersten ghanaischen Kochbananen-Reisteller des Jahres in der Hand relativ gut in die Community integrieren lässt.

Kohorten jugendlicher Lonely-Planet-Reisender lümmeln auf den Planken. Eine Frau mit einem Lammfell über den Schultern sitzt neben einem alten Kinderwagen. Der Wagen ist mit abgetakelten Seilen kreuz und quer vertäut wie ein just dem Meeresgrund entrissenes Wrack, auf ihnen turnen ein Kakadu in Grau und einer in Weiß. Ein junger Bärtiger trägt Ödön von Horváth mit sich herum und predigt für sich selbst, über den Hexensabbat auf dem Blocksberg, über Christina Köhler, über die Macht der Sonne und der britischen Sun. Ein Rasta-Mann kurvt mit seinem Fahrrad durch die Versammelten, als wolle er den Slalom-Weltrekord brechen. Dann bahnt sich eine junge Frau mit einem grob gestrickten Shawl ihren Weg in die Mitte der Plattform. Sie hat Verstärker und Harfe dabei. Sie schlägt die Beine unter und legt den addierten Hall mehrerer Kathedralen auf ihre sanft perlenden Arpeggien, ein vor ihr liegender Zettel nennt sie „Re’Em (hebräisch: Einhorn)“.

Auf die steinerne Befestigung des gegenüberliegenden Kanalufers hat jemand einen frisch neongrünen Schriftzug angebracht: „NIE WIEDER DEUTSCHLAND“. Vielleicht hat Nord-Neukölln doch mehr von San Francisco in den Sechzigern als von der Lower Eastside in den Achtzigern. KIRSTEN RIESSELMANN