: Schlecht entspannte Kiefer
SCHLAGLOCH VON MATHIAS GREFFRATH Warum glauben wir nicht, dass Prävention die Gesundheitskosten senkt?
■ lebt als Schriftsteller und freier Publizist in Berlin. Von 1991 bis 1994 war er Chefredakteur der Wochenpost. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle, dass Umverteilung ohne entsprechende Gesetze nicht zu organisieren ist, ein „Lob des Staates“.
Man denkt erst nach, wenn es akut wehtut. Die Ohrenschmerzen kamen in unregelmäßigen Rhythmen, mal als Druck, mal als Stich, und sie hörten nicht auf. Der HNO-Arzt verschrieb Salbe und Antibiotika, als es nicht besser wurde, Tropfen, und dann gar nichts mehr. Er hatte vierzehn Tage vor Quartalsende die Bude zugemacht, wahrscheinlich weil sein Etat ausgeschöpft war. Immerhin hatte er noch gemurmelt, es könne auch das Kiefergelenk sein, das grenze ja ans Ohr. Aufgeklärte Freunde hoben beim Wort „Kiefernorthopäde“ die Arme und murmelten: „Feldenkrais“. Zwei Wochen später waren die Ohrenschmerzen weg. Ein paar Stunden in dieser nicht kassenfähigen Bewegungsschule lehrten mich, den Kiefer lockerer hängen zu lassen – und auch meinen Bauch. Das wiederum sieht nicht gut aus, also werde ich abnehmen. Der Stich im Ohr verwies auf den ganzen Menschen, auf Lebensweise, Stress und Trägheit.
Lebensnahe Einsparungen
Und auf unser Gesundheitswesen, das ja ein Krankheitswesen ist. Wenn man im weiten Feld der Primärpräventionsmedizin googelt, stößt man auf erstaunliche Zahlen. Die epidemiologische Empirie zeigt, dass 60 bis 90 Prozent unseres Gesundheitsstatus von Lebensweise, Arbeitsbedingungen, Einkommen, Ernährung, Bildung abhängen. Für Primärprävention aber geben die gesetzlichen Kassen knapp zwei Promille ihrer Einnahmen aus. 2007 waren das 2,74 Euro pro Versichertem, und damit wird im Wesentlichen die ohnehin gesundheitstrunkene Mittelschicht „aufgeklärt“. Massenkrankheiten wie Altersdiabetes, Herzkreislauf- und Skeletterkrankungen wären mit veränderten Ess-, Trink- und Bewegungsmustern zu halbieren. Allein bei der Diabetes sparte das pro Jahr 25 Milliarden, Frühverrentung eingerechnet das doppelte. Bei den orthopädischen Krankheiten 10,8 Milliarden, bei den arbeitsbedingten 44 Milliarden. Und so weiter. Zum Vergleich: Das gesamte Gesundheitswesen kostet im Jahr rund 250 Milliarden.
Angesichts solcher Zahlen sind die Auseinandersetzung über Kopfpauschale oder Bürgerversicherung, über Kostensenkung und Leistungsabbau, ja selbst über Pillenpreise die reinste Symptomhuberei. Statt „Gesundheitsreform“ hieße es richtiger: „Finanzierungsreform“ eines unverändert auf kurative Medizin, Pharmakologie, Spitzentechnologie und den niedergelassenen Arzt fixierten Systems. 2005 und 2007 gab es Initiativen zu einem Präventionsgesetz, die, wenn auch bescheiden, dem Auftrag des Sozialgesetzbuches folgten, nach dem die Kassen „einen Beitrag zur Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen“ zu erbringen haben. Einer Ungleichheit, die darin gipfelt, dass im unteren Einkommensfünftel zehn Jahre früher gestorben wird als im obersten.
Kaufkraft fördert Gesundheit
Die Gesetzentwürfe sind gescheitert, die jetzige Koalition hat das Vorhaben beerdigt. Und das wird schwerwiegende Folgen haben. Denn weder über Steuern noch über „Lohnnebenkosten“ wird unser System finanzierbar sein. Nicht nur, weil die Höchstleistungsmedizin immer teurer wird; nicht nur, weil die chronischen Krankheiten zunehmen; nicht einmal nur, weil die Pharma-Konzerne die Preise diktieren – sondern vor allem, weil das Wirtschaftswachstum, das bisher eine teure und ineffektive Medizin möglich machte, am Ende ist. Seit drei Jahrzehnten flacht die Wachstumskurve in den frühkapitalisierten Ländern ab. Klimawandel und die Kosten seiner Bewältigung werden dieses Schrumpfen noch beschleunigen. Die Hoffnung des BDI und des zuständigen Ministers, das Gesundheitssystem mit seinen 4,3 Millionen Beschäftigten und seinem Anteil von 10,7 Prozent am Sozialprodukt könne zum Wachstumsmotor werden, vergisst die Tatsache, dass dieser Umsatz von der Kaufkraft der Bevölkerung insgesamt abhängt.
So ungleich wie die verteilt ist, werden auch in Zukunft die Gesundheitschancen sein: Arbeitslosigkeit und Stress sind die wichtigsten Risikofaktoren bei chronischen Krankheiten. Wenn die weiter zunehmen und es sich herumspricht, dass „Lebenschancen“ wörtlich zu nehmen ist, könnte das brisant für den inneren Frieden werden.
Anstatt der Frühverrentung
Prävention muss zur ersten Säule im Gesundheitswesen werden. Das fordern die Sozialmediziner seit Jahrzehnten, gegen ein Krankheitssystem, in dem „Public Health“ immer noch ein Fremdwort ist und ein vernachlässigtes Modul im Medizinstudium. Dabei sind Untersuchungen und Pilotprojekte schlagend: An den Arbeitsplatz gebundene Gesundheitsvorsorge in Betrieben kann den Krankenstand und die Zahl der Frühverrentungen um zweistellige Prozentzahlen senken, wenn sie unter Beteiligung der Arbeitenden organisiert wird – und die krankmachenden Arbeitsbedingungen mit ins Visier nimmt. Diese Erfahrungen wären übertragbar auf Kitas, Schulen und Wohnquartiere. Ich stelle mir Schulen vor, in denen Kinder sich mehr und anders bewegen, in einem Sportunterricht, in dem nicht nur geturnt, sondern getanzt würde; in denen sie nicht nur etwas über Zucker und gesättigte Fette hören, über die Zusammenhänge von Stress und Immunabwehr, sondern miteinander anders kochen und deshalb essen lernten, in denen nicht nur Lesen, Schreiben und Computer zu den Kulturtechniken gehörten, sonder auch Wadenwickel, Salbeitee und Meditieren, in denen sie nicht nur Fremdsprachen, sondern die Sprache ihrer Körper und ihrer Organe verstehen und urteilsfähig würden über die Angebote der Medizin und ihre Alternativen. Etwa über den Zusammenhang von Ohrenschmerzen und Kiefernmuskelanspannung.
Utopisch ist das nicht, nur vernünftig. Utopisch sind die vereinigte Lobbys der Weitermacher und die große Koalition der Politiker, die dafür beten, dass Wachstum vom Himmel falle, weil die Ergebnisse einer wirklichen Reform erst in einigen Legislaturperioden spürbar würden. Insofern ist die Krankheit des Gesundheitswesens auch eine unserer Arten, Demokratie abzubauen. Der Schmerz ist noch nicht akut genug.