: Reichhaltig, aber ohne Drive
SOPHIE SCHOLL Barbara Beuys hat für die Biografie der Widerstandskämpferin neue Quellen aufgearbeitet
Inge Aicher-Scholl setzte ihren Geschwistern Hans und Sophie Scholl mit dem Buch „Die weiße Rose“ ein Denkmal. Das war 1952. Sie bewahrte sie damit vor dem Vergessen, zugleich verfestigte sie aber ein Bild, das nicht immer ganz den Tatsachen entsprach. Nicht um zu schummeln, sondern weil die persönliche Erinnerung manches beschönigte oder verschob.
Nun ist die Fiktion unvermeidbarer und unverzichtbarer Bestandteil einer Biografie. Barbara Beuys, Verfasserin einer neuen Biografie von Sophie Scholl, möchte der Fiktion – im Sinne eines verfestigten Bildes – entgegenarbeiten: Nach dem Tod von Inge Aicher-Scholl im Jahr 1998, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Zeugnisse der Widerstandsgruppe und der eigenen Familie zu sammeln, ging das Archiv an das Münchener Institut für Zeitgeschichte. Seit 2005 ist es erschlossen, Beuys standen für ihr Buch neue Quellen und Dokumente zur Verfügung. Sie konnte, wie sie schreibt, das Profil der Sophie Scholl „schärfen“, ihre Lebensgeschichte differenzieren.
Das Differenzieren ist ihr gelungen: ausführlich beschreibt sie, wie sehr die Scholl-Geschwister in HJ- und BDM-Aktivitäten verstrickt waren und welche Rolle die große Scholl-Familie als verlässlicher Bezugspunkt spielte. Die Autorin leuchtet das geistige Umfeld dieser protestantischen Familie aus, deren Kinder, wie Beuys schreibt, „einen gewichtigen Mangel an Kenntnis in Sachen Protestantismus“ aufwiesen. Stattdessen studierten sie die Kirchenväter wie Jahrzehnte später andere kommunistische Schriften.
Der Autorin entgehen nicht die Widersprüche, in die Menschen jener Zeit und auch die Scholls sich verfangen mussten. Trotz eines Bruchs mit den nationalsozialistischen Ideen etwa besuchte Sophie Scholl bis 1941 BDM-Abende, ein Jahr später waren bereits die Flugblätter der Weißen Rose im Umlauf. Sie wählte Biologie als Studienfach, das damals durch und durch vom nationalsozialistischen Gedankengut geprägt war. Sie war auch keineswegs naiv gläubig, sondern ein Mensch auf der Suche. „Erkennen durch Denken“, lautete Sophie Scholls Motto.
Es ist nicht einfach, die Biografie eines Menschen zu schreiben, der mit 22 Jahren hingerichtet wurde. Erste Tagebucheintragungen von Sophie Scholl gibt es seit 1937, da war sie schon 15. Davor ist die Autorin auf Briefe anderer und das Tagebuch der Schwester Inge angewiesen. Beuys, die angetreten ist, der Fiktionalisierung und dem monumentalen Bild der Widerständlerin entgegenzutreten, greift notgedrungen auf Quellen von außen zurück. Das Material ist reichhaltig, aber Drive bekommt die Erzählung dadurch nicht.
Überhaupt ist fraglich, ob man sich diesem Thema nach mehr als 65 Jahren auf diese Weise nähern kann. Beuys’ Vorgehensweise ist seriös, schließlich wertet sie als Erste den Scholl-Aicher-Nachlass aus. Aber für wen schreibt sie? Historiker, Zeitgenossen, junge Leute heute? Die würden wohl kaum das erste Kapitel durchstehen. So wünscht man sich beim Lesen oft, die Autorin würde den Schritt des Materialsichtens und -einordnens hinter sich lassen, die gewonnenen Erkenntnisse verdichten und wieder fiktionalisieren. Kein neues Heldengedicht schreiben, aber erzählte und personalisierte Zeitgeschichte.
Das Bild der Sophie Scholl ist durch Beuys zwar differenzierter, ihr Profil aber nicht unbedingt schärfer geworden. Dafür braucht es – gerade mit dem zeitlichen Abstand heute – den kleinen literarischen Funken, die Fiktion. SABINE SEIFERT
■ Barbara Beuys: „Sophie Scholl“. Hanser, München 2010, 493 Seiten, 24,90 Euro