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Archiv-Artikel

Vorfahrt für Männer bei der Arbeit

In Sachen Demokratie, Gleichberechtigung und Toleranz belegen die Türken europaweit die hinteren Ränge. Das belegen Umfragen und eine neue wissenschaftliche Studie

Zwanzig Prozent finden sogar,dass der Mann eine Frau schlagen dürfe

ISTANBUL taz ■ Wahrscheinlich noch im Mai wird erstmals zwischen der Türkei und der EU konkret über den Beitritt verhandelt. Nach Angaben aus Wien, das derzeit die Ratspräsidentschaft stellt, hat die Türkei ihre Positionen zu einem ersten Verhandlungskapitel vorgelegt, und auch die EU ist bereit, in die Verhandlungen einzusteigen. Doch während der Beitrittsprozess ernsthaft beginnt, dauert die Grundsatzdebatte an. Bei der Frage, soll die Türkei EU-Mitglied werden, geht es nicht zuletzt um eine Antwort darauf, ob die Mehrheit der Türken „unsere Werte“ teilt. Um diese Frage ein wenig zu objektivieren, hat die EU einen Wertekatalog entwickelt, den sie in fünfjährigen Intervallen in allen Mitglieds- und Kandidatenländern abfragen lässt. Dabei geht es um Fragen nach der Verankerung von Demokratieverständnis, Gleichberechtigung, Toleranz gegenüber Fremden und der Trennung von Religion und Politik.

Da die letzte dieser „European Values Surveys“ einige Jahre alt ist, hat die türkische Stiftung ARI Movement – ein Zusammenschluss jüngerer Akademiker und Geschäftsleute, die den EU-Beitritt der Türkei unterstützen – diese Umfrage für die Türkei aktualisiert. Im Dezember 2005 ließ sie 1.200 Probanden in 15 Provinzen nach EU-Werten und ihrem Verhältnis zur EU befragen.

Insgesamt bleibt, dass die Türkei beim Ranking postmaterieller Werte im europäischen Durchschnitt auf den hinteren Rängen steht. Während der Prozentsatz, der formal die Gleichberechtigung befürwortet, fast so hoch wie im EU-Durchschnitt ist und auch knapp 80 Prozent, entsprechend dem EU-Durchschnitt, finden, dass bezahlte Arbeit der beste Weg zur weiblichen Unabhängigkeit sei, sieht es konkret etwas anders aus.

Männer sollen Vorrang auf dem Arbeitsmarkt haben, finden fast 70 Prozent – damit ist die Türkei EU-Schlusslicht. Auch bei der Frage, ob das Hausfrauendasein nicht die eigentliche Berufung der Frau ist, liegt die Türkei im hinteren Drittel, wird aber von den baltischen Staaten und Malta noch abgehängt.

Das ist jedoch wenig tröstlich. Denn wie sehr die meisten Türken die Rolle der Frau nach wie vor ganz traditionell sehen, belegt eine weitere Studie über „Konservatismus in der Türkei“, die dieser Tage die Bosporus-Universität vorlegte. So sind 70 Prozent immer noch der Meinung, dass die Frau dem Mann untergeordnet ist, und zwanzig Prozent finden sogar, dass der Mann eine Frau schlagen dürfe, „wenn er es für notwendig hält“. Freizügige Kleidung und Disco- und Barbesuche von Frauen halten 50 Prozent für schädlich.

Bei den Fragen nach der Wichtigkeit von Religion teilt die Türkei die Spitzenplätze mit Griechenland und Malta. Auch bei Toleranzfragen schneidet die Türkei schlecht ab, allerdings nicht so schlecht wie andere EU-Länder. Zwar gibt es in der Türkei die größte Abneigung gegen Menschen anderer Hautfarbe, aber in Fragen von Aids, Homosexualität und Vorbestraften rangiert Ungarn viel weiter unten auf der Toleranzskala.

Wie problematisch solche Umfragen sind, zeigt sich an der Frage nach der Toleranz gegenüber Juden. Obwohl die Türken hier angeblich am wenigsten tolerant sind, führt diese Frage in die Irre. Es gibt in der Türkei historisch kaum Antisemitismus, dafür aber eine emotional große Unterstützung für die Palästinenser. Deshalb wird diese Frage aus dem aktuellen Kontext beantwortet.

Dieses Problem spiegelt sich auch in Antworten nach dem Demokratieverständnis wider. Alle wollen eine Demokratie, in der Türkei mit über 90 Prozent sogar etwas mehr als im EU-Durchschnitt. Trotzdem können sich viele Türken auch eine starke Rolle des Militärs oder das Regiment eines starken Führers vorstellen. Wie sehr diese Antworten jeweils die konkrete politische Situation reflektieren, zeigt sich auch in anderen EU-Ländern. Auch die Polen würden am liebsten eine Herrschaft von Experten installieren.

Deshalb bestätigen diese Umfragen vor allem den alten marxistischen Lehrsatz: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Das hat auch der Vater der gesamten Werte-Empirie, der US-Soziologe Ronald Ingelhart, längst herausgefunden. Ingelhart und seine Leute lassen seit den 70er-Jahren in mehr als 65 Ländern einen so genannten World Values Survey abfragen. Das Fazit ist schlicht: in allen Gesellschaften gibt es den gleichen Punkt, der entscheidet, ob traditionelle oder moderne Werte überwiegen. Diese Wasserscheide ist ein jährliches Pro-Kopf-Einkommen von 10.000 Dollar. In Gesellschaften, die darüber liegen, dominiert die Moderne, darunter regiert die Tradition. JÜRGEN GOTTSCHLICH